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Victorie Hanišová »Rekonstruktion«. Oder: Lesenswerte Lektüre!

Im Zentrum dieses ungemein spannenden Romans steht die Architekturstudentin Eliška, die trotz ihres Studienfaches keineswegs Wohnungen oder Arbeitsstätten bauen will, sondern lieber Altbestände sanieren und bereits Existentes restaurieren möchte. Auch sie selbst lebt in einer alten Villa, die sie von ihrer Tante erbte. Als ihre engste Freundin Romana von ihrem Geliebten, der mit einer anderen Frau verheiratet ist, schwanger wird und er ihr mitteilt, er würde eine Abtreibung entschieden begrüßen, wird sie von ihrer Mutter aus dem elterlichen Haushalt geworfen: ›Du zerstörst dir dein Leben!‹, lautet die unversöhnliche Botschaft; dass sie, die ewig Überforderte, ihres dazu beiträgt, fügen die Lesenden hinzu.

So zieht Romana bei Eliška ein. Doch kaum ist das Kind geboren, überfordern die Veränderungen die junge Mutter. Nicht nur, weil das Baby ein Schreikind ist, sondern auch Schlafmangel und Frustration bringen sie an den Rand des Seins. Romana, die stets ein kritischer Geist war, quält immer mehr die Frage, ob es nicht ein höchst egoistischer und im Grunde genommen unverantwortlicher Akt gewesen sei, in diese Welt ein Kind zu setzen. Wären da nicht Eliška, vor allem aber eine Tante Eliškas, die Romana tatkräftig unterstützen, könnte dieses junge Leben, eben erst geboren, durchaus anders weitergehen. Oder frühzeitig enden.

Wie dasjenige von Eliškas jüngerem Bruder, den die Mutter erdrosselte, bevor sie – vermutlich – Selbstmord beging. Über die Ursachen wurde nie gesprochen. Kein Abschiedsbrief, keine Aussagen der Mutter, die Rückschlüsse erlauben würden, niemand, der irgendwann etwas bemerkt hatte, und selbst Eliška, die an jenem Tag zufälligerweise später vom Sport nach Hause kam, ist sich als Erwachsene nicht sicher, ob es nicht vielleicht doch ein misslungener Hilfeschrei einer vollkommen erschöpften Frau war, die an ihrem eigenen Perfektionismus, den beobachtenden Blicken der Nachbarinnen, an einem stets tobenden Kind und einem konstant abwesenden Vater zerbrach. Oder hätte die Mutter auch sie töten wollen? Damals wurde der Kriminalfall mit dem Vermerk ›ungelöst‹ zu den Akten gelegt. Das Leben aller ging weiter – nicht unbeschadet, aber dennoch.

Das Ungelöste verhindert nämlich eine Bewältigung der Ereignisse, weshalb Eliška – als Erwachsene – allen denkbaren Spuren nachzugehen beginnt, angetrieben vom Wunsch zu verstehen. Ihre Suche nach den Beweggründen, dem Ablauf jenes Tages kennt durchaus eine obsessive Note und ihr Wille zur Konfrontation schließt monatelang einige entscheidende Personen wie ihren eigenen Vater aus, zu dem sie seit jenem Unglückstag keinen Kontakt hat.

Neben den hier bereits angedeuteten Teilaspekten des Themenbereichs Mutterschaft stellt Victorie Hanišová weitere Faktoren gekonnt über Nebenfiguren beziehungsweise mittels Handlungsverlauf dar: Mutterschaft als Geldquelle, die Abwesenheit und das Desinteresse der Väter, die lähmende Einsamkeit von Müttern, welche die ersten Monate mehrheitlich ans Haus gefesselt verbringen und die obendrein mit der zerstörerischen ›Pflicht‹ belastet werden, eine überglückliche Mutter in innigster Verbundenheit mit einem Säugling darstellen zu müssen. Natürlich vernetzt sie sich deswegen auch wahnsinnig gerne mit anderen Frauen, absolviert mit Wonne jedes Mutter-Baby-Seminar, um nur ja jede Sekunde dieser angeblich grandiosesten aller grandiosen Erfahrungen bewusst zu erleben und zu ›genießen‹ – auch wenn sich ihr dabei der Magen umdreht oder sie ihre Zweifel an ihrer Erfüllung dieser neuen Rolle hat: Andere Empfindungen sind in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen.

Wer nun denkt, er oder sie sei an diesem Stoff nicht interessiert – Mutterschaft in weiter Ferne, zukünftig oder vergangen –, der tut dennoch gut daran, einen Blick in diesen Roman zu werfen, denn die psychologische Suche nach dem Warum wird in der Frage überhöht, wie eine Wiederholung erlebter Traumata im eigenen späteren Sein vermieden werden kann. Hanišová paart dies außerdem mit einem gekonnten Spannungsbogen, und sie weiß genau, wie sie diesen aufbaut: in Wellen, mit viel Stoff zum Nachdenken über ein Thema, das uns alle betrifft. Und an den richtigen Stellen die hohe Kunst der zurückhaltenden Andeutung.

Dass Hanišová es bei diesem Plot dennoch schafft, beinahe so etwas wie ein Happy End leise anklingen zu lassen, welches trotzdem nicht konstruiert wirkt, das sei final zu dieser Lektüreempfehlung noch hinzugefügt.

 

 

Hanišová, Viktorie: Rekonstruktion. Aus dem Tschechischen von Raija Hauck. Klagenfurt: Wieser Verlag 2022.