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Streibel Robert: Wie sehr sie uns fehlen. Oder: Dieser Band ist erst ein mahnender Anfang.

Das Lesebuch, welches auf rund 280 Seiten 65 Kolleg*innen präsentiert, darunter bekannte Namen wie Canetti, Csokor, Freud oder Zweig sowie auch eher unbekannte wie Felix Braun, Oskar Jellinek, Rose Silberer, hat als Ausgangspunkt das 100-jährige Bestehen des österreichischen PEN-Clubs. Es holt so auch ein beschämendes Versäumnis nach:

»In der NS-Zeit wurde der Club aufgelöst, wurden Autor*innen, die sich der Diktatur nicht beugten oder aus ›rassischen‹ Gründen verfolgt wurden, ins Exil, ins KZ oder in den Suizid getrieben. Dass es bisher keine eigene PEN-Publikation über ihre Schicksale gab, liegt teils daran, dass das Archiv damals geplündert und Dokumente verstreut oder vernichtet wurden. Zum anderen Teil ist es ein Versäumnis, das nun eingeräumt und korrigiert werden soll«, schreibt Helmuth A. Niederle, Präsident des PEN Austria, in seinem Vorwort. Der Herausgeber des Bandes, Dr. Robert Streibel, Historiker und Autor, spürt in seinem längeren Vorwort den Gründen des Verdrängens nach, nicht nur den PEN betreffend, sondern auch andere Vereine, Verbände, Orte oder Firmen und schließt mit einem Verweis auf die Schlussrede von Salman Rushdies 2023 erschienenen Roman »Victory City«:

»Worte sind die einzigen Sieger«, heißt es darin. Und weiter: »Was sie [die Menschen] taten, dachten, fühlten, gibt es nicht mehr. Es bleiben nur meine Worte, die dies beschreiben.«

Und man ist versucht, mit Blick auf manche Namen der Kolleg*innen, die in diesem Band versammelt sind, hinzuzufügen, dass selbst ihre Worte gefährdet sind, vergessen zu werden, geben wir, die Nachgeborenen, nicht auf sie Acht: Deshalb ist dieses Lesebuch, das uns mit 65 kurzen Textausschnitten von wenigen Seiten zugleich 65 rote Fäden in die Hand legt, so wichtig! Als ein Beginn einer Suche.

Auf die Primärtexte folgen drei bis fünf Ausschnitte aus Presseartikeln, die zu Lebzeiten der jeweiligen Kolleg*innen ihr Schaffen thematisierten und die unsere Lust auf ein Mehr ebenso nähren wie die finalen Kurzbiografien.

Mir bot dieser Band feine Wiederbegegnungen und einige neue Entdeckungen, die ich nicht mehr missen möchte. Vor allem aber schürte er meine Neugierde, mich bei manch einem Kollegen, einer Kollegin auf die Suche zu machen, in Antiquariaten und Bibliotheken, um nach ihren literarischen Arbeiten zu stöbern. Wer weiß, vielleicht geht es anderen ja wie mir, und manches Werk, das nicht mehr zu bekommen war, feiert seine Wiederentdeckung? Denn wie die Zeitung »Arbeiterwille« (bzw. »Neue Zeit«, wie das sozialdemokratische Blatt ab 1945 hieß) am 6.8.1946 schrieb:

»Wir sind arm geworden. […] [W]ir sind […] geistig verarmt. Viele Persönlichkeiten, die unser kulturelles Profil mitgestaltet haben, Gelehrte, Techniker und Künstler, haben ihre Heimat verlassen, um ins Exil abzuwandern. Viele starben einen qualvollen Tod in Hitlers ›Todesmühlen‹. Sie mussten einem geistigen Mittelständlertum Platz machen, dessen wir uns lange werden schämen müssen. […] Viele der emigrierten Persönlichkeiten, die unserem Kulturleben einst Glanz verliehen, werden nicht mehr zurückkehren.« (S. 25)

Holen wir wenigstens ihre Worte zurück, lesen wir sie und lassen wir nicht zu, dass sie vergessen werden! Robert Streibel aber sei an dieser Stelle explizit für seinen Anstoß, sein Zusammentragen all dieser Splitter gedankt: Nun ist es an uns, was wir daraus machen.

 

Streibel, Robert (Hg.).: Wie sehr sie uns fehlen. PEN-Autor*innen in der NS-Zeit. Korrektur verlag/edition pen: 2024.