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Sackville-West, Vita; Harold Nicholson: In der Ferne so nah. Oder: die literarische Hausapotheke, anzuwenden bei Gereizt, Genervt

Wen die Feiertage ob familiärer Turbulenzen an den Rand des Wahnsinns brachten, dem sei dieser Band ausgewählter Briefe dringend zur Beruhigung empfohlen: Er trägt nicht bloß den Titel »In der Ferne so nah«, er zeigt auch auf wunderbare Art und Weise, wie verschieden sich Liebesbeziehungen gestalten lassen; und dass Distanz manchmal durchaus ein Heilmittel ist, das bindet, hat man aus ersten Turbulenzen etwas gelernt.

Für mein Gefühl mengt sich die Herausgeberin Barbara von Becker zwar unnötig oft mit Kommentaren ein, doch da diese kursiv gesetzt sind, sollen wir es unserem Auge auch gestatten, sie fallweise zu ignorieren und mit Beginn des nächsten Briefes weiterzulesen, entweder bei den Zeilen Vita Sackville-Wests oder in den Antworten ihres Ehemannes Harold Nicholson. Wem die beiden Namen nichts sagen, dem sei an dieser Stelle mitgeteilt, dass es sich bei Vita Sackville-West um eine britische Literatin handelt, die mit 11 Jahren zu schreiben begann, Balladen, Novellen und Theaterstücke, und deren Romane in den 1920er-Jahren Bestseller wurden; und über deren literarische Qualität Virginia Woolf anfangs die Nase rümpfte, was Woolf nicht daran hinderte, in den späteren 1920er-Jahren eine enge Freundschaft zur zehn Jahre jüngeren Vita aufzubauen, aus der eine Liebesbeziehung wuchs, die wiederum als Freundschaft bis zu Virginia Woolfs Tod 1941 währte. Vita Sackville-West wurde ihr außerdem zum Vorbild für die Figur Orlando. Unschwer zu erkennen, ist doch in jenem Roman der Konflikt thematisiert, dass eine Tochter eines Barons nicht den Familiensitz erben kann. Deswegen diskutierten Vita Sackville-West und Harold Nicholson 1930 darüber, Sissinghurst Castle zu erwerben:

»Gut, meine Ansicht ist,« schrieb Nicholson im April, »a) dass es höchst unklug ist, Sissinghurst zu erwerben. Es kostet uns 12 000 Pfund, und die Instandsetzung wird weitere 15 000 Pfund kosten. Das sind fast 30 000 Pfund, bevor wir damit durch sind. Für 30 000 Pfund könnten wir ein schönes Haus komplett mit Park, Garage, Heißwasserversorgung, Zentralheizung, historischer Bedeutung und zwei Torhäuser rechts und links erwerben; b) dass es überaus klug von uns ist, Sissinghurst zu kaufen. In seinen Adern fließt das Blut der Sackville-Dynastie. Gewiss, das läuft über die weibliche Linie – aber wir sind ja beide Frauenrechtler, und Knole wurde schließlich auf die gleiche Art erworben. Für Dich ist es ein alter Familiensitz, und das wiegt die Wasserleitung und die Warmwasserversorgung auf.« (S. 62)

Es folgen noch c) und d), die mehr oder weniger besagen, das Haus liege in Kent und sie lieben die Region und diese Bruchbude, denn nichts anderes war das Schloss zum Zeitpunkt des Kaufes. Sissinghurst wurde erstanden und daraus wuchs ein Refugium in wüster Zeit, insbesondere auch des Gartens wegen, den die beiden mit einem Auge für Farben und Formen anlegten, sodass er seiner bemerkenswerten Schönheit wegen bis heute zu den berühmtesten Gärten der Welt zählt. 

Harold Nicholson, dem früh klar war, dass er Männer begehrte und dass seine Frau auch ein Tendre für Frauen habe, lange bevor sie selbst es begriff, war ein britischer Diplomat, ein ausgezeichneter Beobachter politischer Verhältnisse, der nach beruflichen Jahren in Konstantinopel, Teheran und Berlin zuerst in den Journalismus wechselte, einige historische Sachbücher verfasste, bevor er erneut als Staatssekretär arbeitete. War er in England, wohnte er mehrheitlich in London, während Vita und die beiden Söhne vorzugsweise in Kent lebten, doch verging kaum ein Tag, an dem sie einander keinen Brief schrieben, um von den Ereignissen der letzten Stunden und ihren Gedanken zu erzählen oder Weltgeschehen, Politik und Arbeit zu reflektieren. Dieser Dialog, den sie in unbedingter Offenheit über alle örtlichen Distanzen hinweg führen, ist das Bindeglied zwischen ihnen, und vermutlich haben sie dadurch mehr kommuniziert als so manch anderes Paar, das am gleichen Ort lebt. 

Wie in den Briefen zu erkennen ist, folgen beide wechselseitig einer Maxime, die Vita als junges Mädchen aufstellte: »Mich lieben, was immer ich tue. Glauben, dass meine Beweggründe nicht kleinlich sind. Keinen Geschichten Glauben schenken, ohne meine eigene Version gehört zu haben. Alles und jeden um meinetwillen aufgeben, wenn es letztlich darauf ankommt.« (S. 41)

Zwar enthält der Band »In der Ferne so nah« bloß eine Auswahl der Briefe und mit diesen Kollektionen ist es stets eine Krux, weil man immer denkt, Entscheidendes würde fehlen, aber dafür passt dieses Büchlein in jede Handtasche, und wenn man einmal meint, es sei alles zu viel, man wolle wenigstens einige Stunden den Menschen entfliehen, die man doch eigentlich liebe, dann ist dieser dünne Band eines der geeignetsten Werke aus meiner literarischen Hausapotheke: Man wird nach der Lektüre wunderbar besänftigt, zufrieden und allen Menschen wohlgesonnen in Gegenwart und Wirklichkeit zurückkehren.

 

Sackville-West, Vita; Harold Nicholson: In der Ferne so nah. Hamburg: Hoffmann & Campe 2012.