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Louis Begleys »Ehrensachen«. Oder vom amerikanischen College-Leben zu Zeiten Kennedys.

Durch Zufall teilen sich drei Outsider – Archie, Sam und Henry – ein Zimmer auf dem College. Letzterer, ein jüdischer Junge, der in Polen den Krieg als Kind in einem Hinterzimmer einer alleinstehenden »freundlichen Dame« verborgen überlebte, ist seither bereit, alles zu tun, um seine Herkunft – nun, zumindest zu kaschieren. Schlicht und ergreifend, weil er nicht darüber sprechen mag, wonach zu viele seiner Zeitgenoss*innen neugierig und umemphatisch bohren. Aber auch seine Eltern kennen die Sorge: Sie befürchten, steige Henry zu auffallend auf, könnte er Abwehr evozieren.

Aber auch die Familien der anderen beiden Jungs sind nicht unproblematisch: So stammt Archie zwar aus der weißen, betuchten Oberschicht, doch interessieren sich seine Eltern in keiner Weise für ihn, und Sam ist der adoptierten Sohn eines betuchten Alkoholiker-Ehepaares, weil ein Großvater mittels Stiftung – aus welchen persönlichen und beschwiegenen Gründen auch immer – großzügig für diesen Jungen zu sorgen beschloss. Wiewohl Sam die Geschichte ihrer Freundschaft erzählt, tut sich ein Ungleichgewicht in der Raumgebung der drei Freunde auf: Es ist Henry, der mehrheitlich im Fokus des Erzählers steht.

Als der x-te Selbstmordversuch von Henrys Mutter gelingt, sein Vater wenig später an einem Herzinfarkt stirbt, gibt es niemanden mehr, der sein Verbergeben seiner Herkunft allzu schmerzlich kritisieren könnte – denn in den USA der 1950er- und 60er-Jahre wird Henry mit offenem oder verdecktem Antisemitismus konfrontiert sein. So verweigert man ihm den Zugang in verschiedene Clubs, er hat noch bessere Noten zu haben als andere, um in der College-Hierarchie aufzusteigen, man redet in seiner Anwesenheit frappierend empathiebefreit von »nicht assimilierten Horden« (S. 135), und da Henry höchst erfolgreich »Ubu Roi« inszeniert, beginnen ihn andere aus ihren Kreisen auszuschließen: Er hätte sich etwas mehr ducken und unterwürfiger agieren müssen, so sagt man ihm, selbst wenn dies bedeutet hätte, den Anteil am Erfolg anderer zu imaginieren und hochzuspielen, damit sie sich nicht sogleich an ihm rächen und ihm Wege verbauen. Natürlich sammelt er auch erste sexuelle Erfahrungen, einerseits mit Margot, die gleichfalls Jüdin ist und in die er sich Hals über Kopf verliebt, aber auch mit Madame van Damme, einer reifen Frau mit 50+.

Verständlicherweise verliert Henry ab und an auch die Lust, weiterhin gegen den allgegenwärtigen Antisemitismus anzukämpfen:

»An meinem Latein und Griechisch ist nichts auszusetzen, so wenig wie an den Noten in meinen anderen Wahlfächern. Wenn Quantität gemessen wird, gewinne ich. Wenn Sympathiewerte gemessen werden, verliere ich. Sie mögen mich nicht. Ich bin eben anders. Ich sehe nicht so aus wie sie, ich spreche nicht wie sie, und ich spiele nicht die selben Spiele wie sie. Sie wären mich gerne los. Sie gewinnen: Ich räume das Feld, ich werde sie nicht mehr stören. Niemanden mehr!« (S. 251) 

Spätestens an dieser Stelle erinnert man sich an einem sehr prägnanten Abschnitt zu Beginn des Romans:

»Daß ich Jude bin, verschafft mir keinen Vorteil und macht mir keine Freude, das ist eine Tatsache, sagte er. Es hätte meine Eltern und mich beinahe das Leben gekostet. Aber das bringt mich nicht dazu, an Gott zu glauben. Es bringt mich dazu, ihn zu leugnen und mir zu wünschen, ich wäre nicht einer der Auserwählten, ich wäre nicht bei der Geburt in diese gräßliche Falle gestoßen worden. Trotzdem: Solange es Leute gibt, die es kümmert, ob ich ein Jude bin, der vorgibt, keiner zu sein, so lange muss ich Jude bleiben, auch wenn ich mir innerlich nicht jüdischer vorkomme als ein geräucherter Schweineschinken.« (S. 49)

Henrys Weg geht von der Altphilologie und der Liebe zur Theaterregie zur Jurisprudenz; und Sams berufliche Entwicklung gipfelt mehr oder weniger zufällig in einer Romanpublikation. Diese verschafft ihm endlich so etwas wie Achtung – diese schwer zu fassende gesellschaftliche Möglichkeit, dass Türen sich mehr oder weniger von allein öffnen.

Sams Vater sauft sich zu Tode. George, Sams Cousin, vergewaltigt eines Nachts die Freundin Margot, mit der er noch recht lose liiert ist. Das scheint ihn jedoch ebenso wenig zu belasten wie der Bruch, den sie danach vollzieht. Er redet sich darauf aus, dass sie es provoziert habe.

Solche Ereignisse erfahren wir Lesenden meist aus dem Mund mehrerer Protagonist*innen, so dass wir uns final im Zusammenspiel der Sichtweisen ein relativ umfassendes Bild aller Geschehnisse machen können. Henry und Sam bleibt Margot hingegen weiterhin verbunden.

Während einer gemeinsamen Reise stänkert der angetrunkene George so lange, bis eine Gruppe Schläger auf sie aufmerksam wird. Sam, der versucht, die Situation zu de-eskalieren, gerät dabei ins Visier der Aggressoren, mit katastrophalen Folgen: Sie prügeln ihn halb tot. In weiterer Folge verliert Sam – unter anderem einer Depression wegen – ein Studienjahr.

Die tragischste Figur aber ist Archie: Er schafft es konstant stark alkoholisiert, mehrere Autos zu Schrott zu fahren. Diese Wägen waren Mal um Mal Geschenke seiner Mutter, die ihm nach jedem Unfall ein weiteres Auto schenkt, noch schneller und mit mehr PS, als würde sie seinen Tod wünschen. Dass er bei diesen Eskapaden auch so manch andere Menschen in den Tod reißt, scheint Archie, bodenlos, wie er lebt, kaum zu berühren. Es kommt, wie es kommen muss: Final wird er mit seiner soeben angetrauten Ehefrau auf einer solchen Tour in den Tod rasen.

Auch Margot Leben verläuft kaum, wie sie es sich vorgestellt hat: Die Ehe mit dem französischen Autor Jean, die er eingeht, um an Status zu gewinnen und endlich am Leben der Reichen teilzuhaben, kann kaum befriedigend genannt werden. Dass sie weiterhin dann und wann mit Henry schläft, ist für beide zwar eine Konstante, aber keine Erfüllung. Erst nachdem sich Margot von Jean getrennt hat, fragt sie Henry zum ersten Mal direkt, ob er mit ihr leben wollen würde. Seine Antwort ist an hilfloser Kälte kaum zu überbieten: »[W]ir sind alt geworden, Margot, wir könnten kein Kind zusammen haben, du bist nicht mehr jung genug. Uns geht's doch gut, so wie wir jetzt sind.« Eine Antwort, die für eine Frau, reduziert auf ihre Gebärfähigkeit, mit Sicherheit nichts anderes als eine Ohrfeige bedeuten kann.

Der Aspekt der Schuld, von Anfang an im Hintergrund präsent, drängt sich mehr und mehr in den Vordergrund und trägt im Laufe des Romans dazu bei, dass die Erzählung rasant an Tempo gewinnt und spannend bis zuletzt bleibt. Es ist die Figur Henrys, die als erste das Thema explizit anspricht und ihm eine zusätzliche Komponente verleiht, indem er die Crux der Selbstverleugnung thematisiert: »Habe ich dir im Zug meiner langen Tirade gesagt, daß ich mein Leben hasse? […] Du kannst mit Recht fragen, was meine Selbstverneinung mir eingetragen hat. Mein Judismus ist mir geblieben, wie fauliger Atem.«

Und Sam, der mehr oder weniger mit seinen Eltern brach, nachdem er erfuhr, dass er adoptiert ist, nimmt das Thema wie folgt auf:

»Hatte ich Schaden angerichtet, in dem ich vor Ihnen floh, eine Mauer der Gleichgültigkeit zuerst und dann der Krankheit aufrichtete, hinter der ich mich versteckte?«

Es ist dieser Teilaspekt der Schuld, der vor allem die Verantwortung, die wir für einander tragen, abdeckt. Final wird Margot mit direkten Worten ihren Freund Sam mit einem zusätzlichen Anteil an Schuld konfrontieren, die wir ungewollt auf uns laden, weil wir uns in ein Leben einmengen, dessen weitere Teilaspekte wir nicht zu überblicken imstande sind: »Du und Archie, ihr habt ihm all diese Kunststücke antrainiert. Wie einem Zirkusbären. Archie war weniger wichtig – auch wenn er Henry im Innersten manchmal vielleicht lieber war – als du, dich hatte er ernst genommen, du warst so wie er werden wollte, und ein wenig von deinem Cousin George hätte er gern noch dazu gehabt. […] Warum habt ihr alle ihn nicht in Ruhe gelassen? Warum habt ihr ihm geholfen, ein Ehren-Arier zu werden?« 

Wie sich das auf das Leben der Freunde auswirkt und weshalb sich Henry deswegen zu einem radikalen Schritt entschließt, sei in dieser Rezension nicht verraten. Nur so viel: Der Roman bleibt bis zur letzten Zeile überraschend und ungemein spannend, und er hallt lange im Lesenden nach, denn kennen wir diese Gefahr nicht alle – uns selbst zu verleugnen, um in angebliche oder real existente Normen anderer zu passen? 

 

Louis Begley: Ehrensachen. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2007.