Lesereise USA NYC & MITTLERER WESTEN

2.3.2017:

Erster Tag in NYC – noch ein wenig jetlag geplagt, kein Wunder, wenn von 48 h gerade zwei schlafend verbracht wurden ;-) die Metropole Laa mit gekonntem Frühverkehr nach Schwechat lässt grüßen ;-) – so ging es heute um 7 Uhr morgens bereits in den Central Park zu »Alice in Wonderland«, die ja in jenem Roman, an dem ich derzeit arbeite, eine wesentliche Rolle inne hat, bevor Jürgen Bauer und ich die Bibliothek des Austrian Cultural Forum New York erkundeten, um dort »Martiniloben« (Septime Verlag) wie »¡Leben!«, jene beiden Titel, um die es während dieser Reise geht, zu signieren; zwischenzeitlich grüßten Aschenkreuze zuhauf auf Stirnmitten gemalt, gestern; die Einwanderungsformalitäten weckten Erinnerungen an Cuba, wie auch in »Unzeit« (Otto Müller Verlag) dargestellt … erlebnisreiche Stunden in einer überraschenden Stadt auf jeden Fall! Mal sehen, was literarisch daraus entsteht …

 

 

3.3.2017:

Zweiter Tag – mich interessiert es meine Beobachtungen in dieser Stadt zu überprüfen und ich fühle den Menschen auf den Zahn … Ja, unbezahlbar sei das Leben in dieser Stadt, ein Zimmer mit knapp 25 m2 koste $ 1.300,–, Mieten in Höhe von 25 Tausend monatlich seien ganz normal für diese Region um den Central Park, und ja, alles habe sich verändert, die Lebensmittelpreise in der Stadt seien enorm – ich denke an meinen Blick auf die 100g Milka ($ 3,49), die mich dazu brachte zu denken, g*ttlob sind meine Kinder nicht mit … Normale Süßwaren, ebenso wie ein kleines Schüsselchen Obst um $ 9 und nein, keineswegs und bio-fair-trade-handgemacht-Blüten-adiert-sanft-liebkost; im Gegenteil: Industrieware – okay, ich räume gerne ein, dass Schokolade nicht lebensnotwendig ist, dennoch zeigt es etwas auf, ebenso wie die Tatsache, dass ich, als ich mit dem kostengünstigsten Süßen an der Kassa lande, die Kassiererin es eingelesen hat und perplex auf den Bildschirm schaut, laut lacht und mitteilt: hej, wie viele von dem Produkt sind da?, kauft schnell noch drei, vier, fünf, alle, bevor die den Unsinn merken, welchen sie da eingegeben haben, wann hat man schon mal wieder Gelegenheit zu Schokolade um $ 0,69? … Anderes lässt einen weniger auflachen. Die Erzählungen der hier lebenden Menschen zu der Kluft, die sich aus politischen Gründen durch Freundschaften und Familien zieht, Berichte über Attacken, denen diejenigen aus dem Freundeskreis ausgesetzt waren, die auf der Straße eine andere Sprache als Englisch sprachen und mit einem ›Go home!‹ konfrontiert wurden. Die populistische Sprache, die Einzug in die Politik hielt, wird als Freibrief für lautstarke Xenophobie betrachtet. Es sind diese Erzählungen von einer Besorgtheit und Furcht, die einen schlaflos lasse, die Erinnerungen weckt an die Wochen vor der Bundespräsidentenwahl in Österreich …

 

 

4.3.2017:

Dritter Tag – noch immer tickt die innere Uhr falsch, 6 Uhr morgens und die Augen öffnen sich, wiewohl der Körper sich nach Schlaf sehnt. Kaffee aus einem kleinen Shop, in welchem überwiegend spanischsprechende Menschen arbeiten, wir tauschen uns aus, natürlich folgt sogleich die Frage, weshalb eine Österreicherin Spanisch könne, nach meinem Bezug zu Cuba … die Arbeiter bevölkern die Straße, sie entfernen die verknoteten Müllsäcke, transportieren Waren, ihre Höflichkeit nimmt einen für sie ein, zu keiner Tageszeit hört man derart dominant diese mir leibgewordene Sprache, wie in den Stunden vor 9 Uhr. Um jene Zeit stehen wir bereits in den Privaträumen des Schweizer Botschafters, zu einem opulenten Frühstück geladen, tauschen uns aus – über die abendliche Literaturveranstaltung und jene, die folgen werden. Spannend sind die Fragen auf der Agenda und sie versprechen für die Debatten ein hohes Niveau. Hier kommentierte man bereits die Tatsache seitens der New Yorker Veranstalter, es sei auffallend, dass die Wahl unter rund 70 Literat/innen im Hinblick auf Österreich just auf zwei Autor/innen aus einem Verlagshaus – Septime Verlag – fiel, weshalb wir beide denn dort gelandet wären? Verschmitztes Lächeln unsererseits: Das hänge allein am Verleger Jürgen Schütz und dessen Persönlichkeit. Unter den Literat/innen dreht sich der Dialog vor allem auch um die Frage der Bedeutungsnuancen, denn mit so manchen Termini haben wir unsere Probleme – political-engaged literature zum Beispiel, mir drängt sich da sogleich die ›Literatur der Arbeitswelt‹ auf, DDR lässt grüßen … Ich frage mich, in wie weit es möglich sein wird, über Literatur gewohnt eloquent zu sprechen, ohne permanent sozial-historische Bezüge zu thematisieren, Bedeutungsnuancen abzugleichen … Mal sehen, in 30 Minuten treffen wir auf die Studierenden: Nun aber los und weg vom Schreibtisch, Marlen! 

Am Abend des dritten Tags ist Trump erneut Thema. Ein älterer Herr erzählt mir, er hoffe sehr, die Ereignisse dieser Tage wirkten auch als Wecksignal und die Bewegung, welche sich in den letzten Tagen formierte, werde nachhaltig wirksam sein. Mehr Berichte zu übergriffigen Pöbeleien auf der Straße erreichen mich ›Verpisst euch, oder Trump wird schon dafür sorgen …‹ Ich denke an die Werbemessage auf einem Taxi für eine Jeansmarke, die ich heute sah: Make love not Walls. Auch von ihnen wird bereits die derzeitige Lage thematisiert. In der Grand Central Station ein still mahnender Protest – no wall, das ist auch hier der Inhalt. Die Stimmung unter den Menschen, mit denen ich spreche, wechselt beständig, zwischen Bedrücktheit und euphorischem Aufbegehren, ich stehe mitten darin und höre zu, Grundtenor aller: Es verändere sich.

 

 

5.3.2017:

Gestern Abend hatten wir die erste Literaturdiskussionsveranstaltung auf Englisch zu bestreiten, »Words with Writers«, und ich fand eine kongeniale und sehr sympathische Dialogpartnerin in Janine Wahrendorf, die meinen Faction-Roman »¡Leben!« regelrecht studiert hatte, um mir alsdann auf den Zahn zu fühlen ;-) was uns dazu verleitete, nach der Veranstaltung noch lange, lange weiterzuquatschen, über Literatur und Universität, das Leben in den USA sowie die Situation der Wissenschaft in Europa. (http://festivalneueliteratur.org/…/part…/marlen-schachinger/) Zum Festival erschien überdies ein Reader, ich hatte die wunderbar genaue Übersetzerin Tess Lewis für beide Romanpassagen, »¡Leben!« wie »Martiniloben« an meiner Seite! (http://festivalneueliteratur.org/festival/reader/)

Vierter Tag, eisige Temperaturen, selbst einige Schneeflocken verirren sich nach Little Italy, die Straße dort erzählt einzig von den Feten der letzter Nacht, menschenleer, im Rinnstein, am Trottoir was zurückblieb, Einkaufstüten, zertretene Trinkbecher, eine blaue Socke. Der Müll ist allgegenwärtig, selbst in Restaurants wird das Essen in plastifiziertem Karton offeriert – es stellt sich die Frage, was sparsamer sei, offenbar die Entsorgung und nicht die Spülmaschine. Was vernünftiger wäre? – diese Frage stellt sich nicht. Welches unser Lieblingsspeiselokal wurde? Isidora's 

;-) Smalltalk mit der mexikanischen Crew – heute, fragte man uns: Wie lange seid ihr denn noch in der Stadt, mal kein ›guys‹, dafür eine ›chica‹. In Chinatown der erste Supermarkt mit Preisen, die einen nicht zurückschrecken lassen, hat man eine deklarierte Vorliebe für 100g getrocknete Seegurken oder Wurzelfleisch mit unaussprechlichen Namen. Ja, jeder betrachtet ein Land, das er oder sie gerade kennenlernt, vor der Folie des Vertrauten, zieht Vergleiche; ob diese gerechtfertigt sein mögen oder nicht. So zeigt die Polizei dieser Tage zwar Präsenz, bewirbt sich selbst mit den Schlagwörtern ›Courtesy – Professionalism – Respect‹, doch ihre Körpersprache ist entspannt, kein Machogehabe, keine Drohhaltungen, und ich denke an diejenige in Wien, könnten sich von den hiesigen ruhig eine Scheibe abschneiden: eine ›Puff’n‹ macht keinen Polizisten, geschweige denn einen Mann, und Freundlichkeit steht nicht im Widerspruch zum Berufsethos. Andererseits gehen die New Yorker mit Raucher/innen alles andere als entspannt um: Nicht nur dass im Abstand von so und so vielen Feet – nobel angekündigt auf goldenen Tableaux – nicht geraucht werden dürfe, solche Schilder sind massenhaft vorhanden, es kann auch geschehen, dass einem ein Passant einen Nikotin-Kaugummi mehr oder weniger aufoktroyiert. Angepöbelt hingegen, mit Naserümpfend bestraft, wie in Wien so gerne gespielt, das erlebt man hier nicht. Eine mit besonderer Vorliebe für Wutzeltabak erzählte mir, man betrachte sie gerne mit Misstrauen, im Blick schon der Verdacht, hier sei eine am Vorbereiten ihres Kiffgifts. Auf dem Weg zu Ground Zero/World Trade Center nehmen wir eine unserer berühmtberüchtigten ›Abkürzungen‹, die Kinder können ein Lied davon singen: Minitreppe, Absperrungsschlängelei und finden uns alsdann auf einem leeren, leeren Platz wieder: NY Police Headquarter … Wenige Gassen weiter zu – ja, was? architektonisches Mahnmal? mit Shoppingmal? Und ich weiß nicht wie oft wir in diesen Tagen »Alice« zitieren: »Ülkiger und ülkiger«

Vierter Abend, eine Buchhandlung in Brooklyn, nahe der U-Bahn gelegen. Ihre Geräuschkulisse schleicht sich in die Ohren, in die Mikrophone. Dass diese am Wochenende wegen Reinigungsarbeiten in den Tunnels nur reduziert fährt, wurde uns zum Verhängnis: keine Linie M. Umdisponieren, ausweichen, auch die nächste Verbindungsmöglichkeit fährt bestimmte Stationen nicht an, trotz eisiger Kälte bricht Hitze aus – bis die Hoffnung auf Pünktlichkeit als absolut unsinniger Wunsch ad acta gelegt ist. So erreichen wir nach 90 minütigen Irrfahrt den Lesungsort, an welchem die Kollegen bereits begonnen haben, weder gewohnt früh noch zeitgerecht, sondern mit peinlicher Verspätung. Über die tröstet auch der Riesenbär, neben welchem ich zu sitzen komme, kaum.

Auf fahrbaren Tischen sind Bücher ausgestellt, eine silberne Glitterkugel kreist gemächlich in der aufsteigenden Wärme des Raumes und der zuhörenden Körper, wirft ihre Lichtspiegelungen als Reflexion an die Wand. Die Diskussion dreht sich um »Born this way: Writing the Personal«, und so sehr ich gerade auch in der jetzigen politischen Situation des Landes, aufgrund der bekannten Homophobie Trumps sowie einige seiner Minister/innen, ihrem Glauben an ›Umerziehung‹ und ähnliche absurde Theorien, verstehen kann, dass es queeren Literat/innen ein Anliegen ist, zu betonen, wer sie sind, so ernsthaft frage ich mich auch, ob der Literatur hierdurch ein guter Dienst erwiesen wird, kommt es zur Verschmelzung zwischen der Person und Ich-Identität des Menschen, der hinter einem Werk steht, und dem Werk selbst in Form einer Kategorisierung. 

Erinnert sei hier an die unsägliche Bezeichnung ›Frauenliteratur‹ im deutschsprachigen Raum für jene literarischen Arbeiten, die von Literat/innen verfasst wurden, welche sich selbst als Feminist/innen definierten. Fakt ist, dass derartige Kategorien stets auch eine Einengung der Leser/innenschaft mit sich bringen, wenn sich am Etikett des Buchhandelregals final solch eine Bezeichnung wiederfindet, sie nicht im regulären Belletristik-Alphabet zu finden sind. 

Oder andersherum erzählt: Als ich eine Jugendliche in der österreichischen Provinz war, wurde die örtliche städtische Bibliothek im Viertel aufgelassen, ein etwas chaotisch sortierter Bücherbus war fürderhin die Anlaufstelle meiner Leselust. Zur gleichen Zeit wechselte ich von der Kinderabteilung in die Belletristik, fischte hier, da, dort ein Werk aus dem Regal, weil der Titel mich ansprach, das Cover; ich hätte mit ziemlicher Sicherheit nicht Hemingways »Fiesta« oder E.M.Forsters »Zimmer mit Aussicht« als Zwölfjährige für mich entdeckt, hätte es eine Etikett gegeben, das mich aufgefordert hätte, aus ihrer Kategorie heraus meinen Lesestoff zu wählen! 

Mein Widerwille gegen Schubladen und Kategorisierungen nährt sich jedoch nicht nur hieraus oder aus dem Wunsch, jede/r möge sich doch selbst und stets ein Bild machen. Er hat auch den Hintergrund, dass es meine Überzeugung ist, dass jedes Werk, jedes Erzähluniversum, welches sich darin gestaltet, nicht nur einer eigenen Struktur, sondern vor allem auch einer eigenen Sprache bedarf. Kategorien, die einer Literatur übergestülpt werden, bedeuten daher stets auch eine Einengung – der zu gestaltenden Thematiken, des Protagonist/innen-Repertoires … Zu solch einer Einengung des Fokuses jedoch? – bin ich nicht bereit. Wieso mir dies durch den Kopf wandert, sich sogar in nächtlichen Träumen von viel zu engen Schubläden und Kisten, von widerspenstigen Kommata und Buchstaben niederschlug? Ich werde heute Mittag sowie abends zum Thema »Silence is Violence/Politische Literatur« ›verhört‹ werden – das Nachtsammelsurium, welches sich alsdann in mein Traumgewebe schleichen mag, möchte ich mir derzeit noch gar nicht ausmalen. Mögen die Wörter und Interpunktionszeichen, die ihnen innewohnenden Charaktere und Klangräume bloß nicht dem Populismus frönen …

 

(Einwand Jürgen Bauer: Bin sehr gespannt auf die Diskussion. Vor allem auch, da wir hinsichtlich queerer Literatur sehr unterschiedliche Positionen vertreten. Ich glaube, dass ein spezifischer Blick sehr wohl auch in Kategorien gefasst werden kann und soll, auch um die Eigenheiten dieses Blicks zu wahren, wertzuschätzen und als solche anzuerkennen - nicht im grossen Pool zu verwässern. Es wird auf jeden Fall ein Fest, euch nach meiner Diskussion gestern zuzuhören, kann es kaum erwarten! Und davor lesen wir noch ein bisschen, yea)

 

Spezifischer Blick – hmmmm … Ja, derjenige der Literatin auf die Welt. Das würde ich als meinen spezifischen Blick bezeichnen, und diesem eingeschrieben ist ja auch das ungemein Schöne unseres Berufs, alles sein zu können, im Gestalten einer Welt, Mann, Frau, Rauchfangkehrerin und Astronaut, sich selbst also im Schreibakt auslöschen und in eine gänzlich andere Person schlüpfen zu können, gleichem einem Schauspieler, einer Schauspielerin. Demnach, wenn wir über Identifikation sprechen, wäre die meine, diejenige der Literatin, unabhängig davon, was ich tue, dh ich blicke als Autorin auf die Welt, spüle aber auch als solche Geschirr, habe Sex, staune über tausend Dinge. Das Erfassen der Welt, die Begegnung mit ihr ist mir durch die gestaltete Sprache gegeben. Anders kann ich nicht in der Welt sein. Diejenige jedoch, die sich reduziert, auf mein Geschlecht oder meine Lebensweise, wäre mir ebendies: eine Reduktion. Auch des von mir zu gestaltenden literarischen Spektrums. – Spannend, auf jeden Fall spannend, stimmt, Jürgen Bauer 

 

 

6.3.2017:

Gestern, fünfter Tag: Zwei Lesungen. Mittags im Deutschen Haus im Village, abends in einer famosen Buchhandlung, in der ich mich sogleich zuhause fühlte. Unsere Formate aus klassischer Lesung oder Lesung mit Werkstattgespräch kennt man hier in dieser Form nicht. Üblicherweise sind sie erstens moderiert und zweitens betragen die Leseminuten zwischen 1 und 10 – ne, kein Tippfehler. Hauptaugenmerk liegt hier auf der Podiumsdiskussion, die final zum Publikum hin geöffnet wird. So drehte sich die gestrige Debatte zu »Silence is Violence« um folgende Aspekte:

We are here to discuss LGBTQ political writing and letters during heighten political/cultural tensions, but as astute writers and readers writers how would you each even define politically-engaged LGBTQ literature?

Is it defined by a sensibility or by subject matter?

What are some of the queer political writing that has inspired your own work? And how? 

When examining politically engaged writing, how would you define the differences between art and rhetoric?

Can some writing be both?

It is often noted that regressive political moments inspire great works of transgessive art and commentary? In this age of rapid-fire commodification and social media saturation, how do you see art-making playing out amidst our current political reality?

Bald schon wurde deutlich, dass es hier zwar einerseits durchaus vehementen Diskussionsstoff gab, sich jedoch andererseits sogleich ein Problem auftat: Die Bedeutungsnuancen einzelner Termini, die eben auch soziokulturell und -historisch geprägt sind, wären zu verdeutlichen, um einen sinnvollen Dialog zu führen. ›queer‹ zum Beispiel, gehe ich an die etymologische Wurzel des Wortes, lässt sich diesem durchaus zustimmen, daher sprach mich auch das Festivalthema »Queer as Volk« an. Ich sehe es unabhängig davon, ob die eigene sexuelle Orientierung sich so oder so benennen mag. Die bilinguale Komponente verweist bereits darauf, dass unsere Welt einerseits eine brüchige ist, andererseits jedoch auch eine, die nicht an nationalstaatlichen Grenzen mehr endet. Das Wort ›Volk‹ sehe ich als einen Terminus, der in sich die Idee der Einheit trägt, kommt dem nun aber der Begriff ›quer‹ hinzu, findet sich darin implizit die Aussage, dass Menschen keine normierten Wesen sind, sie passen in keine Schablonen, und dies ist wunderbar so. Wir sind alle ein bisschen seltsam und sonderbar, haben unsere Ecken und Kanten, unsere Schrullen. Darin steckt ein unermesslicher Reichtum; nicht nur für den Blickwinkel der wahrnehmenden Literatin wohlgemerkt ;-) Wir sind Individuen, und dennoch Teil eines sozialen Systems, und wird dies endlich begriffen, artet Individualismus auch nicht in Egomanie aus. Schon allein das Eingangszitat Larry Kramers »I don’t consider myself as an artist. I consider myself a very opinionated man […]« lieferte Diskussionsstoff. Wie ich gestern ausführte definiere ich mich als Literatin, unabhängig davon, ob ich meiner eigentlichen Arbeit, dem Schreiben, nachgehe oder anderen Tätigkeiten: Alles kreist darum, die Welt zu sehen, zu beobachten – oder vielmehr: sie wahrzunehmen: »Früher habe ich die Passanten und die Umgebung beobachtet. Heute nicht mehr. Heute nehme ich sie wahr – das hat eine andere Intensität.« 

(Lenka Reinerová)

Gestern Abend hieß es auch Abschied zu nehmen: Von den überaus engagierten Organisator/innen und Moderator/innen des New Yorker Festival Neue Literatur, dem Deutsches Haus, dem Goethe Institute of New York und dem Austrian Cultural Forum New York und seinen Mitarbeiter/innen, die nicht nur diese Reise ermöglichten, sondern uns auch wunderbar betreuten! Und von einer Stadt, die mir den Eindruck gab, sich zumindest in dieser Kürze unseres Aufenthalts permanent zu entziehen. Frühmorgens reisen wir aus New York City ab, Antje Ravic-Strubel, Simon Froehling, Robert Gampus und ich ziehen weiter in den Mittleren Westen: Chicago wird unsere erste Station. Die Stadt empfängt uns bewölkt, aber die Wärme ist eine Wohltat nach der eisigen Kälte in NYC, die Herzlichkeit tut gut. Der erste Eindruck Chicagos ist Von allem ein bisserl weniger‹, weniger laut, weniger Verkehr, weniger hoch, weniger abgefuckt, weniger versnobt, weniger wohlhabend. Heute Abend heißt unsere erste Station Evanston, ich wechsle von »¡Leben!« zu »Martiniloben« und bin gespannt, wie dieser Roman hier aufgenommen wird, gibt es doch durchaus Parallelen zwischen der politischen Situation, aus der heraus er zur Zeit unserer Präsidentenwahlen in Österreich entstand, und den Entwicklungen hierzulande – in den Gesprächen in New York City wurde dies zumindest bereits offensichtlich. Oh - wer hat an der Uhr gedreht??? Zeit zu laufen!

 

 

7.3.17:

Sonnendurchfluteter Morgen in Chicago, eine Stadt, die sich heute offensichtlich für uns bemüht, ihrem Ruf, ›the windy city‹ zu sein, in jedweder Hinsicht gerecht zu werden, frühlingshaft begegnet er uns, eine Wohltat nach den zwei letzten eisigen Tagen im Minusbereich der Gradanzeige in NYC. Während wir gestern in einem kleinen Buchladen im nahe gelegenen Evanston gastierten, wird die heutige Lesestation die Universität in Chicago sein. Solch eine Lesereise ist grandios; und zugleich erschöpft sie einen, und wäre unsere kleine Truppe nicht derart kollegial und frohgemut im Umgang untereinander, würden wir nicht so viel scherzen, wir hätten wohl öfters massive Müdigkeitseinbrüche. Mir scheint beinahe, wir teilen uns diese auf: Ist der eine etwas erschlagen von unserer Tour, sind die anderen verlässlich da, bis Lebenskraft und Geistesgegenwart, und beides ist durchaus von Nöten, tingelt man von Ort zu Ort, stürmen Eindrücke auf einen ein, wechselt man permanent die Sprache. Schön Teil dieser Literat/innen-Gruppe mit Antje und Simon zu sein!

Evanston ist geprägt durch niedrige, schmale Häuser, Läden mit durchaus phantasievoller Auslagengestaltung; es weckt Erinnerungen an manche Städte Englands. Meinen Studierenden erzähle ich ja immer gerne von dem bizarren Effekt der Aufmerksamkeitsfokussierung, und während dieser Reise ist es »Alice in Wonderland«, die offenbar beschlossen hat, mich überallhin zu begleiten: Wie sonst wäre es zu erklären, dass in jeder Buchhandlung bislang mein Auge auf eine ausgestellte besondere Ausgabe fiel? Dem gestrigen Tag genügte es nicht, mir eine oder zwei zu schenken, sondern mich begrüßte im »Bookends & Beginnings« eine gesamte Vitrine verschiedenster »Alice«-Ausgaben. Jeff Garrett, der Besitzer des Ladens, erzählte mit Stolz von diesem Unterfangen – auf Deutsch, und als ich mich erkundigte, woher denn seine auffallend akzentfreien und wortreichen Kenntnisse der deutschen Sprache stammten, erwähnte er, in München studiert zu haben. Buchhandlungen wie die seine, welche keineswegs den Charakter eines Supermarktes aufweisen, sind auf solchen Lesereisen (und darüber hinaus) wunderbare Raststationen, und – unabhängig davon, wo sie sich auf diesem Planeten befinden – vermitteln sie einem das Gefühl des Zuhause-Seins im Vertrauten, das sie ausstrahlen. Man streift Regale entlang, liest am Buchrücken von diesem und jenem Freund, erinnert sich an Momente mit ihnen, erwidert ihren Gruß vom Bücherregal heraus mit einer sanften Berührung, vielleicht auch einem Blättern in ihnen. 

Dass in den USA – unseren bisherigen Informationen nach – nicht mehr als rund 400 Werke im Jahr übersetzt werden, inklusive aller Kochbücher und Bedienungsanleitungen, können wir kaum glauben. Es scheint, als würde jener Zahl doch mindestens eine oder zwei Nullen fehlen … Schließlich ist der Rest der Welt, welcher nicht englischsprachig ist und ausgezeichnete Kunst entwickelt, das Erzählen weitertreibt, zu neuen Ufern aufbricht, doch keine Miniaturumkleidekabine am Strand eines Nirgendwo, oder? 

Das Gespräch im Anschluss an die Lesung wird – und das ist vertraut – von der Sorge, um Veränderungen im Literarischen Feld, dominiert: die Zahl der Selfpublisher hier sei hoch und nehme stetig zu, Amazon wird (wie in Europa) als Bedrohung der kleinen Läden empfunden, die ja nicht nur den haptischen Kontakt zum Werk ermöglichen, sondern eben auch das Gespräch über Literatur mit Gleichgesinnten. Erstaunlich scheint es mir dann jedoch, dass wir hier kaum auf ›Buy local‹-Initiativen gestoßen sind; manche Nahrungsmittelläden, ja, und gestern bei »Bookends & Beginnings«, doch ansonsten? Eine allgemeine Leseunlust wird beklagt, es scheint, als habe man beinahe Angst vor dem Aussterben der Gattung ›Buchmensch‹. Kann ich mir nicht vorstellen. Nennt mich eine unverzeihliche Optimistin, doch ich glaube daran, dass es immer Menschen geben wird, die es als Wohltat empfinden, Stunden in fiktive Welten abzutauchen, sich mit neuen Gedanken zu konfrontieren, ihr Wissen um diese Welt zu nähren, Menschen, die auf den Genuss der Lektüre keinesfalls verzichten mögen …

 

 

8.3.17:

Siebter Tag unserer Reise … Wir machen Station an der Uni. Nach der Lesung dort, für die ich eine andere Passage aus »Martiniloben« wählte, kreisten die Fragen um einen spannenden Aspekt, der sich jedoch sehr schlüssig erläutert, denkt man ein wenig über die Differenzen der einzelnen Künste nach: Weshalb ist der Blick der Literatur auf einen menschlichen Körper stets einer, der ihn fragmentiert? Hier ein Knie, dort eine Wange, eine Halskrumme, ein Knöchel – nie jedoch der Körper als ganzer. Die mir sinnvollste ANtwort ist schlicht diejenige, dass jeder fokussierte Blick, der wahrnimmt, in der literarischen Erzählwelt, bedingt durch das Nacheinander jedes Erzählens immer fragmentiert darstellen muss – im gegensatz zum Film, der die Totale kennt, bei dem sich zwar alsdann auch erst im Näherkommen der Protagonist/innen Details entschlüsseln, sehr wohl jedoch ein visuelles Aufnehmen des Gesamten zB gehenden Körpers möglich ist. Im Betrachten, aus der Nähe, irrt das Auge dennoch wieder über die nun klar zu erfassende Gestalt – und fragmentiert. Just dies ist auch der literarische Blick. Hinzu kommen zudem die Schnitte, die wir vornehmen, um die Inhalte zu verweben; so weckt der Blick auf ein Knie die Erinnerung an ein anderes, der Blickwinkel gleitet in eine Rückblende ab, vielleicht auch in eine Vorschau und so verdichtet sich das Erzählen, indem eines ins andere fließt …

»Ülkiger und ülkiger«, das ließe sich durchaus auch über Chicago sagen; dass uns die erste Frau, die uns über den Zebrastreifen entgegenkam freundlich anlächelte, schrieben wir noch dem Zufall. Bei der siebten waren wir irritiert, und dem Polizisten, der uns mit »Hi Guys« im Vorbeilaufen grüßten, antworteten wir bereits mit einem ebensolch strahlenden »Hi« – was sollte man sonst darauf sagen?, und damit meine ich nicht nur das Faktum, am Arm eines Mannes in jedem Laden mit ›Hi guys‹ begrüßt zu werden, was eine europäische Frau doch schon zu irritieren vermag. 

Chicago ist nicht bloß die Stadt des Blues, es ist auch diejenige, in der uns Campagnen begegnen, um einerseits denjenigen, die hier ohne Papiere leben, zu helfen, in der Plakate zur Solidarität mit Obdachlosen und Älteren auffordern und einem erläutert wird, ›man müsse kein Ninja sein, um gegen Mobbing zu kämpfen‹: Make America Love Again …

Achter Tag, internationaler Frauentag – alles erdenklich Gute allen Frauen, mögen sie hier oder dort leben und diese oder jene Lebensweise bevorzugen. Das Mysterium der Mikroaggression konnten wir bislang nicht ergründen, dafür diskutieren wir über Geschlechtergerechtigkeit. So sei an dieser Stelle auf meinen Essay »Gendern – ist noch das kleinste Problem« verwiesen (http://www.marlen-schachinger.com) Und wir, wir machen uns an diesem windigen und noch recht kalten Frühmorgen auf den Weg nach Minneapolis.

In ihrem Essay »Mit Fremden leben« charakterisiert Siri Hustvedt die NYC Gesellschaft – als von der Haltung des ›Tu so, als wäre nichts‹ geprägt. Wahrzunehmen, was um einen geschieht und hierauf spontan zu reagieren, dies zählt hierzulande wohl nicht zu den Tugenden, und wer die kollektive Atmosphäre der Auslöschen zu überschreiten wagt, hat mit Konsequenzen zu rechnen. Wachsamkeit hingegen, eine permanente Wachsamkeit, die sich hinter leeren Gesichtsfassaden zu verbergen trachtet, wird als Notwendigkeit gesehen, um zu überleben. Verhält sich jemand nicht comme il faut, den hunderten Regeln und siebenhundert mit ›prohibited‹ schon vorab abgeriegelten Ideen, die ein Kopf eventuell gebären mag, folgend, wird jene Person schlicht ausgelöscht, im Blick, in der Aktion – oder: sobald jemand eine Uniform trägt, wendet sich das Blatt. Nicht ganz so in Chicago. Ich stehe in der U-Bahn, wir sind auf dem Weg zu unserem nächsten Lesungsort, ein Passagier spielt laute Musik, an die Tür gelehnt, der gesamte Waggon wird hierdurch beschallt. Niemand spricht ihn darauf an, niemand reagiert. Vorerst. Bis ein älterer Mann im auffallend dünnen Mantel, vor sich ein Koffer, halbgeöffnet, weil der Reißverschluss offenbar defekt ist, im vorderen Fach halb verschämt eine Dose Bud, mit Kopfschütteln an das junge Mädel neben ihm gewandt zu ihre bedeckten Ohren durchdringt: Das sei doch keine Art! Nein, wahrlich nicht! Solche Musik zu hören, die keine sei. Und alle anderen dazu zu zwingen, ihr gleichfalls zu lauschen, und er beginnt zu singen »Ive got sunshine …«, das Mädchen neben ihm, mit Schmunzeln, »on a cloudy day«, so fällt sie in das Lied des Obdachlosen ein – der Rest der Anwesenden schweigt, übt sich in Ignoranz der Situation, nur der Mann gegenüber, geht auf das Lächeln ein, eine verschworene Gemeinschaft entsteht: have a nice day!

Was an diesem Land verstört, ist das Gefühl, es als Europäer/in, die erstmals hierher kommt, es weder erfassen noch verstehen kann. So frage ich mich nach Wiederholung einer bestimmten Szenerie, ob diese System hat: Menschen in Uniform brüllen und kommandieren, schnauzen an und gebärden sich, als wäre man geistig unterbemittelt, vollständig unfähig und dies mit einer Impertinenz, die keinen Widerspruch duldet. Jeder Securitycheck am Flughafen ist eine Anschreiorgie, die man über sich zu ergehen lassen hat, und so freundlich Amerikaner/innen sonst meist sind, oft schon auf eine Art, dass wir die offen zur Schau getragene Herzlichkeit im Hinterkopf mit misstrauischen Fragezeichen versehen, so unfreundlich per excellence sind die Beamten der Security. Ähnlich, erzählt man mir, gehe es auch anderswo zu, Platzanweiser im Theater, manch andere Ordnungshüter … Es ist die bizarre Diskrepanz zwischen extremer Höflichkeit und einem häufigen »Excuse me« und dieser Form einer massiv-übergriffigen Maßregelung, sobald einer sich die Uniform anzieht, die irritiert. Ich denke an meinen Chicagoer Polizisten und sein »Hi guys«, auch solche vervollständigen das Bild – und tun wohl daran.

 

 

9.3.17:

Heute morgen traf ich eine wahrhaft lebenswichtige Entscheidung: Eine Mini-Espressokanne, elektrifiziert, muss her! Komme, was da wolle. ;-) Denn bedauerlicherweise führen mich so einige Reisen eben nicht in Länder wie Italien oder Spanien, wo man unter Kaffee das Gleiche versteht wie ich: Stark, schwarz; unmöglich durch das Getränk hindurch einen Blick auf den Boden der Tasse zu erhaschen. Vielleicht fällt das ja auch schon unter Morgentraum? Und der American unter Alptraum …? (https://www.youtube.com/watch?v=6E-Y9eLUOHw) Jedenfalls: Das Ende unserer Lesetour nähert sich, nächste und zugleich letzte Station: Madison, und das ist gut so, noch zwei Mal Security-Check, noch zwei Morgen ohne meinen geliebten Espresso – vielleicht hält sogar die Stimme noch bis dahin aus …? Ich hoffe es. Die Müdigkeit nach diesem Marathon ist eklatant. In den letzten beiden Nächten, wiewohl wir noch Stadtpläne wälzten, untertags, war davon abends, nach den Lesungen, kein Jota mehr vorhanden, nur noch der Wunsch nach der Horizontalen: Schon mahnt die Uhr, in zehn Minuten geht es los, Laptop zu, Stiefel an, Mantel, Koffer schnappen & sausen …

 

 

10.3.17:

Und erneut on the road: von Madison nach Detroit nach Newark … in sechs Stunden dann der Aufbruch von hier: Abschiednehmen, zuallererst auch von den beiden anderen Kolleg/innen Simon Froehling und Antje Ravic-Strubel, mit denen wir höchst angenehme Stunden zwischen fachlicher Diskussion und Scherz, Blödelei und Ernsthaftigkeit verbrachten: Es war mir ein Fest mit euch unterwegs zu sein! 

Die Bilder hier erinnern nochmals an Minneapolis, wo uns ein deutsches Professorenpaar so überaus freundlich empfing, zu sich einlud und herumführte; der Mississippi, das ist schon wahrhaft ein Erlebnis …

Was und bis Wisconsin beschäftigte, war neben den unendlichen Rollwegen, die Simon Froehling sogar zum Kurzfilm inspirierten, der umfassenden roten Tasche, die von Medizin bis Lesebuch, tausenderlei Notwendigkeiten und Rettungsanker in sich aufnahm (okay: die faszinierte vor allem unsere Begleiter/innen, Robert Gampus und ich sind ja mit ihr vertraut ;-) ), die Frage nach der Faszination des Autobiographischen (oder vermeintlich ebensolchen Textelementen) für das Publikum … für uns persönlich wohl eine der irrelevantesten Aspekte in einem literarischen Diskurs, für die ›Wahrheitssucher‹ hingegen: ein Lebenselixier? ein A und O? Und inwieweit geben wir Vargas Llosas Theorie Recht hinsichtlich des Schreibakts als umgekehrter Stripteaseprozess, zuerst nackt, alsdann bekleidet … Eine spannende Reise mit überaus lieben Kolleg/innen geht hier zu Ende, ich werde mir einen Kaffee suchen und hoffe ich habe Glück, ansonsten: See you in Vienna, im nächsten Kaffeehaus

 

… ach ja: die Müdigkeit ist ein elender Hund, ein alter: Kein »Martiniloben« mehr im Gepäck :-) aber Nachschub wartet ja in Wien