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Thomas Mann »Zauberberg«. Oder: Vom Wesen der Zeit und die heilige Sieben

Das Ende einer Epoche, möglicherweise sogar das Ende einer Welt, erzählen manch großartige Romane, und wer bereits meine Vorlieben kennt, wird sich darob nicht wundern, dass sogleich der Name Marcel Prousts fällt. Kaum einer hat mit ähnlicher Genialität die Dekadenz einer Gesellschaftsschicht samt ihrem Totentanz gezeichnet wie er in seiner »Suche nach der verlorenen Zeit«. 

Ein weiterer Zeitroman – zudem im doppeltem Sinn des Wortes – ist Thomas Manns umfassendes Werk »Der Zauberberg«. Widmet sich das erste Kapitel noch der Phase der Anreise, samt ungemein klug skizzierter Steigerung der Aufmerksamkeit jedes Reisenden ob des veränderten Zeitbegriffs im Unterwegs-Sein sowie wegen ungewohnter Umgebung, ist der zweite Abschnitt dem aus auktorialer Perspektive dargestellten biographischen Rückblick auf den Werdegang des Helden Hans Castorps vorbehalten, eine Kindheit, die von Todesfällen gesäumt war. Dieser Teil fokussiert somit eine vergangene Zeit, eine verflossene, mit prägenden Ereignissen, deren Charakter einem oft dennoch nur teilweise bewusst ist. Es schließt – die Verwobenheit des kunstfertig konzipierten Romans sei hervorgehoben – den Bogen zum dritten Kapitel, welches bereits im ersten Satz das Verschlafen der Zeit als Gefahr hervorkehrt. Das vierte – die Zeit der Akklimatisation – zieht Verbindungslinien zur Anreise, zu den Reflexionen des Unterwegs-Seins.

Als Konsequenz aus all dem bringt im fünften Kapitel die Ewigkeitssuppe das Nicht-Erleben der Zeit im Einerlei, wenn ein Tag dem anderen gleiche, sich darin wiederhole, zu einem »stehenden Jetzt« werde, zu einer »ausdehnungslosen Gegenwart«, wie es ein jeder aus Perioden längerer Krankheit kennt. 

Was sei also die Zeit, wird zu Beginn des sechsten Kapitels konsequent gefragt und außerdem ihr Zusammenspiel mit der Bewegung betrachtet:

»Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. […] Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie ›zeitigt‹. Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht Damals, Hier nicht Dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit mißt, kreisläufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebensogut als Ruhe und Stillstand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt, das Dort im Hier.« 

Schon lande man bei der Unendlichkeit, und das Endliche, Begrenzte reduziere sich auf Null. 

Unser Dasein jedoch ist per se endlich; mal allgemein gesprochen, in Sanatorien wird einem dies um so bewusster, und ebenda spielt die Handlung des Romans; wir befinden uns in der Schweiz, in einem Lungensanatorium, »Berghof« genannt, das der Erzähler uns gleichsam als Gegenwelt zur ansonsten allgemein üblichen präsentiert, indem er das Leben darin mit einem charakteristischen ›Wir hier oben‹ von Beginn an in Kontrast zu ›Ihr dort unten‹ setzt. Im Sanatorium werden aus Rücksicht auf die noch lebenden Kranken die Toten zwar nicht gerade pietätvoll, doch durchaus zweckmäßig, mittels eines Bobschlittens am späteren Abend im Schutz der Dunkelheit aus dem Haus gebracht, bevor in den Zimmern ›gestöbert‹ werde – so nennen die Patient/innen das Durchforsten und Zusammensammeln der Hinterlassenschaft derjenigen, die von den Moribunden zu den wahrhaft Toten wechselten, bevor die Zimmer für den nächsten Patienten desinfiziert werden und die kreisläufige Zeit erneut ihre Zirkularität im Sinne Nietzsches beweist.

Selbst als Besucher wird man an solch einem Ort mit Vergänglichkeit konfrontiert; eingangs ist Hans Castorp ja nichts anderes, denn er kam zu Besuch, um seinem lungenkranken Vetter Gesellschaft zu leisten. Final jedoch wird er in jenem Sanatorium eine derart lange Zeit verweilt haben, dass diese ihn selbst bereits eine Ewigkeit zu dauern dünkt. 

Auch das siebte – und letzte – Kapitel beginnt mit einem Verweis auf die Zeit und stellt dabei die Frage, ob sie sich selbst erzählen lasse; als närrisch wird solches Vorhaben sogleich von der Hand gewiesen, keiner würde eine Narration genießen können, die sich wie folgt ausbreite:

»Die Zeit verfloß, sie verrann, es strömte die Zeit […]« 

Dennoch wird ebenjenes als Unfug gebrandmarktes Unterfangen kaum sieben Sekunden – oder zwei Sätze – später zurückgenommen, indem konstatiert wird, die Erzählung gleiche der Musik darin, dass sie die Zeit erfülle, sie mache, dass ›etwas los‹ sei. Beide Kunstgattungen, charakterisiert durch ihr ablaufendes Wesen, bedürften der Zeit um zu ›erscheinen‹, die Literatur – ungelesen – schweigt auf stummem Papier, die Notenschrift ungespielt und unbetrachtet tönt nicht. Just hierin liege jedoch außerdem eine Differenz zwischen der Narration und der Musik, welche auf den ersten Blick verständlich klingen mag, deren Nachvollziehen bis zur letzten Konsequenz ihrer Bedeutung trotzdem einige Schwierigkeiten schafft, wie ich aus meiner Lehrtätigkeit im Bereich des »Literarischen Schreibens« nur allzu gut weiß:

»Das Zeitelement der Musik ist nur eines: ein Ausschnitt menschlicher Erdenzeit, in den sie sich ergießt, um ihn unsagbar zu adeln und zu erhöhen. Die Erzählung dagegen hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann. Ein Musikstück des Namens ›Fünf-Minuten-Walzer‹ dauert fünf Minuten, – hierin und in nichts anderem besteht sein Verhältnis zur Zeit. Eine Erzählung aber, deren inhaltliche Zeitspanne fünf Minuten betrüge, könnte ihrerseits, vermöge außerordentlicher Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung dieser fünf Minuten, das Tausendfache dauern – und dabei sehr kurzweilig sein, obgleich sie im Verhältnis zu ihrer imaginären Zeit sehr langweilig wäre. Andererseits ist möglich, daß die inhaltliche Zeit der Erzählung deren eigene Dauer verkürzungsweise ins Ungemessene übersteigt […].« 

Von der Zeit selbst zu erzählen, also einen Zeitroman in doppeltem Sinn zu verfassen, ist folglich Thomas Manns Vorhaben; dieses wird seitens des auktorialen Erzählers auch mittels des allgemeinen Settings begründet: Die vergehende Zeit als eine Ebene des Seins, entschwinde den Patient/innen.

Selbst der Wechsel der Jahreszeiten wird nach dem ersten Erleben ihrer Hochgebirgesvarianten kaum mehr wahrgenommen, was der Narrator damit begründet, es könne dort durchaus im Sommer schneien oder einem im Winter infolge übermäßiger Höhensonne die Haut verbrennen. 

Folglich wiederum ein stehendes Jetzt? Aufgrund aufkommender Langeweile im Gleichmaß der Tage?

Nein.

Dank genialer Erzählarchitektur, weder im Lesenden noch aus Sicht der Figuren dieses Universums. Wir erhalten Einblicke in den Zeitvertreib der illustren Gästeschar, der sich merklich im Laufe der Jahre verschiebt: Eingangs sind es Konzerte oder weiterbildende Vorträge, die sich um die revolutionären Erkenntnisse Sigmund Freuds gruppieren; von ›Seelenzergliederung‹ ist da spöttelnd die Rede. Ergänzt werden diese durch zeitlich knapp gehaltene Abendgesellschaften, in deren Zentrum neben der lockeren Konversation vor allem das Staunen über kinematographische Apparatenkunst steht. 

Untertags hingegen nimmt in Castorps Alltag der Dialog mit dem Humanisten, Freimaurer und erzieherischen Pädagogen Settembrini geraumen Platz ein. Er rät ihm sogleich nach dessen Ankunft zur Abreise, denn raus solle der junge Mann, in die Welt, sie mittels seines Berufes als Ingenieur gestalten, bloß nicht hier im Sanatorium verharren. Settembrini bleibt bis zum Ende eine Konstante des Romans, eine dominante Figur wie kaum eine andere, dabei ist er in persona ebenso wie sein Gedankengut bereits todgeweiht, mag er auch noch so oft im übertragenen wie im wortwörtlichen Sinn das Licht anknipsen oder Castorp gehörig den Kopf waschen: Auf Hans Castorps Aussage über die ehrende Krankheit wird Settembrini beinahe ausfallend; übrigens liegt in dieser Sichtweise Castorps eine Vorwegnahme der späteren doppeldeutigen Rede, er selbst habe sich dem »[…] genialen Prinzip der Krankheit unterstellt […]«. Final wird Castorp, der, nach all den Jahren, doch noch aufbricht, um in die Welt hinaus zu ziehen, mit Settembrinis Wangenküssen verabschiedet.

Solange der Cousin Joachim Ziemßen, angehender Leutnant, anwesend ist, gibt man sich der Zeit gegenüber diszipliniert und akkurat, Thermometer und vorgeschriebener Tagesablauf gliedern dessen Stunden, und die Nacht ist einzig dem gesundheitsförderlichen Schlaf reserviert. Oder wie eine andere Patientin namens Madame Clawdia Chauchat es nennt: 

»Vous [die Deutschen] aimez l’ordre mieux que la liberté, tout l’Europe le sait.« 

Ordentliche Bürgerlichkeit also – daraus entwickelt sich im Laufe des Romans jedenfalls gänzlich anderes, mittels einer als Auftakt instrumentalisierten Schlüsselszene, die in der Faschingsnacht angesetzt ist und in der Hans Castorp ebenjener reizvollen Dame namens Chauchat – heiße Katze – nicht bloß verbal mit dem Du kommt, um fürderhin entweder jede Anrede zu meiden oder sie – in Erinnerung an die vergangene Zeit jener ersten und einzigen Nacht – weiterhin und trotz ihres Protestes zu duzen. Später wird es in einem Dialog der beiden heißen, er sei im Sanatorium verblieben, um auf sie zu warten; hinter ihrem Rücken kehrt aus Castorps Mund die Genialität der Krankheit unter anderem Vorzeichen wieder, indem er über diese verheiratete Frau sagt, sie beanspruche aufgrund ihrer angegriffenen Gesundheit Freiheit für sich – und zwar eine, die Sexualität durchaus inkludiere. Der Kreis schließt sich, die Doppeldeutigkeit der Castorpschen Rede vom »genialen Prinzip der Krankheit«, dem er sich unterstellt habe, wird deutlich, verbindet man ihre Person, sein Warten, seine anatomischen Studien, deren symbolische Aufladung, den späteren Crayon (Bleistift) miteinander … 

Noch eine Anmerkung zu dem Erzählelement des Duzens, das im Gegensatz zum damals bekanntlich eher üblichen Siezen stand: Schon die Vornamensnennung ist – selbst unter den beiden Cousins – mit Scheu vor zu viel Intimität beladen, eine Sorge, welche die Beziehung zwischen Joachim und Castorp derart prägt, dass die einmalige Interjektion »Hans!« daher als herausragendes Ereignis verwundert wahrgenommen wird, denn gewohnt waren beide dies zu meiden. Darin zeigt sich Hans Castorp als wahrer Meister betrifft es Clawdia, da er sich weigert zum Siezen zurückkehren, als sie nach Monaten der Abwesenheit erneut das Sanatorium aufsucht, enttäuschender Weise mit einem Herrn Peeperkorn als ›Reisegefährten‹. Dieser ist nur an einer Stelle des Romans, in einem finalen Bekenntnis quasi, in der Lage, zusammenhängende Sätze zu bilden, die mehr enthalten als floskelhafte Wendungen und ausgegebene Order. Kaum erfährt er von jener Faschingsnacht und Castorps anhaltender Verliebtheit in Clawdia Chauchat, erklärt er dem weitaus jüngeren Mann, er, Peeperkorn, könne sich leider nicht mit ihm duellieren, krank wie er sei, er biete  Castorp jedoch das Du der Brüderschaft als ›Lösung‹ an. Bedeutsam ist in diesem Kontext auch nochmals auf Settembrini zu verweisen, welcher jedes Duzen ablehnt, da er darin das Ende eines zivilisierten Umgangs sieht. 

Zu jenem Zeitpunkt der Rückkehr Clawdias mit Peeperkorn an ihrer Seite wird auch das Tages-, vor allem jedoch das Nachtprogramm im Sanatorium bunter. Peeperkorns opulente Gelage, die stets von seiner Unruhe und seinem befehlsgewohnten Gehabe geprägt sind, steigern sich in weiterer Folge zu Vorboten dessen, was kommen wird: obsessive Spiellust, beschwörende Séancen, bei denen auf unübliche Art das Licht ausgeht – Sie erinnern sich? Es ist die Figur des Settembrini, der dafür symbolisch und real bislang zuständig war, die Szenerie zu erhellen; nun ist er aus finanziellen Gründen ins ›Dorf‹ hinuntergezogen, beäugt zwar kritisch, was oben geschieht, zieht sich jedoch mehr und mehr zurück, vor allem weil ihm Peeperkorns Dummheit einen Dialog unbehaglich macht. Das Ende naht also. Und es kommt in großen Schritten, mit Getöse, bringt unerklärliche Zanksucht und Streit mit sich. Von einer polnischen Ohrfeigenorgie ist die Rede, zuvor zurückhaltende Figuren verlieren plötzlich jede Contenance, bauen ihren inneren Druck in cholerischem Geschrei ab, welches an Peeperkorns Befehlston erinnert, und vor aller Augen prügelt sich der Antisemit Wiedemann, nach Tagen an denen er sein Gift spie, mit dem jüdischen Patienten Sonnenschein. Aber das ist noch immer nicht das Finale: Settembrini wird während jener Romanzeit eine weitere Figur an die Seite gestellt, ein Gymnasiallehrer namens Naphta, gleichfalls krank, ein galizischer Jude, der als junger Mann konvertierte, Jesuit wurde, und nach den ersten Weihen in seiner angestrebten sakralen Laufbahn jedoch aus Gesundheitsgründen ›pausieren‹ musste. Die beiden Herren liegen seit ihrem Kennenlernen ewig im Disput miteinander, der väterliche Settembrini warnte Castorp vor den teuflischen Reden Naphtas, der im Krieg die einzige Lösung für diese Welt sieht. 

Die Wortgefechte der beiden Männer nehmen auffallend an Vehemenz zu, bis Naphta Wortlust allein nicht mehr genügt. Er besteht auf einem Pistolenduell. Settembrini sieht darin jegliche Gesprächskultur vor die Hunde gehen; vielleicht wäre es auch zutreffend zu sagen, sie beißt im Kriegstreiben ins Gras? Settembrini jedenfalls weigert sich einen zielgerichteten Schuss abzugeben, feuert stattdessen gen Himmel, weshalb Naphta ihm Feigheit vorwirft und seine Kugel in das eigene Gehirn dirigiert. Damit wird gekonnt auch die Bühne für ein relevantes Ereignis im Außen geschaffen, von dem alsdann erzählt wird: das Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, welches den Auftakt zum ersten Weltkrieg darstellt, 1914 – beides sind in diesem Romanuniversum die einzigen zu verankernden Punkte auf realer Zeitleiste, neben der Anzahl der Jahre, die Castorp dort oben in der ewigen Gegenwart des »Berghofs« einquartiert ist, denn der auktoriale Erzähler informiert uns: Es sind ihrer sieben.

Womit sich uns die Frage nach der Bedeutung stellt – zu auffallend kehrt diese Zahl wieder, um zufällig zu sein. Es findet sich – neben den 7 Jahren in 7 Kapiteln – die 7 der Genesis im Vorsatz, und der lichtbringende Settembrini dient als roter Faden (italienisch il sette, die Sieben; zu dem sei an das Verb ›brindare‹ erinnert, einen Toast ausbringen). Sieben Protagonist/innen machen einen Mai-Ausflug zu einem Wasserfall, wo Peeperkorn eine aufgrund des Tosens ungehört verhallende Rede hält, bevor er sich in nachfolgender Nacht selbst vergiftet. Schlüssig wird die Bedeutung der Zahl, ruft man sich in Erinnerung, dass die Sieben nicht bloß die Summe von drei (alles Geistige) und vier (die vier Elemente, das Materielle) ist, obendrein die erste Primzahl, sondern außerdem die Zahl des Tabus, weshalb sie in der Bibel sowie in allen abrahamitischen Religionen auffallend häufig vorkommt. Im »Zauberberg« wird auf all diese Ebenen verwiesen – erinnert sei an die Vorträge Dr. Krokowskis über Krankheit und verdrängte Liebe, das Tabu der Zuneigung zur verheirateten Clawdia … 

Der verwobene Charakter des Werks zeigt sich auch in einem Hang zu sprechenden Namen, die dem Lesenden ein weiteres Amüsement sind: Clawdia Chauchat ist natürliche eine ›heiße Katze‹, weder ihr ungebärfreudiges Becken, noch ihre durch Krankheit fortgeschrittene innere ›Verwesung‹ lässt die Aficionados in ihrem Begehren wanken; einer heißt Paravant und verhält sich ebenso; Wehsal liebt weisungsgemäß das Leiden; früh stirbt Leila Gerngroß; und auch Castorps erotischer Jugendtraum Pribislav trägt nicht von ungefähr den Nachnamen Hippe, denn eine solche schwärmerische Zuneigung muss in heteronormativer Welt unterdrückt werden und enden – mit ›Hippe‹ wird die Sense des Todes ebenso bezeichnet wie ein Klappmesser mit geschwungener Klinge. Dr. Krokowski ist ungefähr mit ebensolcher Vorsicht zu genießen wie Safran, dessen wissenschaftlicher Name crocus sativus lautet und dessen höchste Qualität crócus austriacus genannt wurde: teuer, berauschend und – bei medizinischem Einsatz – die Stimmung derart aufhellend, dass man trunken vor Gelächter endet, wurde die Dosierung übertrieben – Sie erinnern sich sicherlich an die Nebenwirkungen der Thorax-Operationen im »Zauberberg« … Als Medikament wurde es zu jener Zeit übrigens genutzt, um Hypochondrie zu behandeln; Dr. Krokowski, der sein Medium (Brand mit Nachnamen!) just Hans Castorp anvertraut, um Tote in den Raum zu holen, steht eindeutig in Beziehung zum Erscheinen des verstorbenen Vetters in Uniform und der alsdann sogleich erfolgenden Abreise Hans Castorps – auf das Schlachtfeld des ersten Weltkriegs. Naphtas Namen erinnert wohl auch nicht von ungefähr an den aromatischen Kohlenwasserstoff Naphthalin, zu griechisch ναφθα naphtha, Erdöl. Dabei handelt es sich um ein Rohöl mit dem charakteristischen Geruch nach Mottenpulver, das vor dem Petroleum als Leuchtmittel in Lampen verwendet wurde und sich schädlich auf Gesundheit wie Umwelt auswirkt. Ja, zahlreich sind diese Bezüge, sie zeugen von der kunstvollen Architektur des Romans, die von der ersten bis zur letzten Zeile durch Verwobenheit geprägt ist: Alles baut hier aufeinander auf, steht in Bezug zu früher Erzähltem, zu Nachfolgendem.

Ein Zeitroman ist der »Zauberberg« auch im Hinblick auf die Entwicklungen technischer Natur, die sich in den damaligen Geist einschrieben, sie runden dieses Universum ab und lesen sich insbesondere aus der Distanz höchst amüsant: die Erfindung der Röntgenaufnahmen und das Staunen darüber, das ›Innere‹ sehen zu können, die daraus sich entwickelnde Liebesgabe des Röntgenbildes an den einen Auserwählten, an die Auserwählte; die Photographie ganz allgemein sowie der Beginn des Films, die Anfänge des alpinen Skilaufs (hier noch mit Schneeschuh bezeichnet), die Idee Altpapier zu sammeln und einer Wiederverwertung zuzuführen – und das Grammophon; Castorp hütet diese Abspielvorrichtung der menschlichen Stimme und der musikalischen Instrumente vor dem kindischen Treiben der anderen, lauscht den Aufzeichnungen nächtelang. Erinnert sei hier kurz an Settembrinis Rede von der einlullenden Macht der Musik, die zwar wache Geister zum nächsten Schritt motiviere, seien sie bereits entschlossen, ansonsten jedoch die gleiche Gefahr in sich berge wie ein Opiat. Vor allem Schuberts Lindenbaum hat es Castorp angetan, dieses Lied wird sogar seine vermutlich letzten Schritte auf dem Schlachtfeld begleiten …

Aufgrund der verwobenen Bezüge stellt sich die Frage, ob der ab dem zweiten Drittel wiederholt vorkommende Terminus, Castorp sei ein ›Bildungsreisender‹, nicht doch auch noch auf mehr zu münzen wäre, denn auf das Stilmittel der Ironie, Settembrinis Diskurse, Naphtas Monologe, Castorps eigene Studien der Anatomie, der Botanik und Sternkunde – ein Wissen, das er zwar erwirbt, vertieft, dass jedoch vorerst keine Entwicklung bewirkt und vielmehr dem Zeitvertreib zu dienen scheint, der Ablenkung auch im Hinblick auf das beunruhigende Begehren, welches Thomas Mann ja in mehreren Werken ausgestaltete, oft in Kombination mit dem Tod. Castorp verlagert sein erotisches Sehnen von Hippes slawisch-ausgeprägten Backenknochen zu Clawdias ebensolchen, über seine Hinwendung zu ihr sagt er: »[…] car tu es le Toi de ma vie […]«. Es ließe sich auch als ein Wechsel von seinem zu ihrem Crayon erzählen; denn von beiden leiht er sich einen Bleistift, beiden gibt er diesen zurück. Jene Tatsache erinnernd verspricht er sich im Hin und Her der Übersetzung in einem Selbstgespräch gehörig – und Freudsch obendrein –, mitten in einem Schneesturm allein in der Bergwelt ausharrend, wenn er in jener Situation memoriert, er habe »[…] der kranken Clawdia Chauchat son crayon, seinen Bleistift, Pribislav Hippe’s Bleistift zurückgegeben […]« Dass derjenige Hippes uns als »[…] versilbertes Crayon mit einem Ring, den man aufwärts schieben mußte, damit der rotgefärbte Stift aus der Metallhülse wachse […]« vorgestellt wird, es über denjenigen Clawdias jedoch heißt: »›Prenez garde, il est un peu fragile […] C’est à visser, tu sais.‹ Und indem ihre Köpfe sich darüber neigten, zeigte sie ihm die landläufige Mechanik des Stiftes, aus dem ein nadeldünnes, wahrscheinlich hartes, nichts abgebendes Graphitstänglein fiel, wenn man die Schraube öffnete.« – das bedarf ja wohl keiner weiteren Erläuterung.

Es wurde hier bereits erwähnt, es gäbe nur einen vollständigen Redebeitrag Peeperkorns, der kein enervierendes und dennoch sinniges Gefasel sei. Jener betrifft die Frauen: 

»Den Mann berauscht seine Begierde, das Weib verlangt und gewärtigt, von seiner Begierde berauscht zu werden. Daher unsere Verpflichtung zum Gefühl. Daher die entsetzliche Schande der Gefühllosigkeit, der Ohnmacht, das Weib zur Begierde zu wecken.« 

Noch ein Wort der Vollständigkeit halber hierzu: Der gesamte Roman spiegelt ein obskures Frauenbild wieder, da die Protagonistinnen allesamt entweder strohdumm, potthässlich, Gerstenkorn verseucht und ekelerregend sind oder aber als hypersexualisierte Wesen bloße Anbetung ermöglichen – letztere Gruppe besteht übrigens exakt aus einer Person, der ›heißen Katze‹, und »[w]ährend also die Lippen Hans Castorps und Frau Chauchats sich in russischem Kusse, finden, verdunkeln wir unser kleines Theater im Szenenwechsel.« 

Wenn der auktoriale Erzähler, der uns durch dieses Universum dirigiert, welches er zumeist als ›deren‹ oder ›deren dort oben‹ tituliert, plötzlich jedoch zu »[…] unserer unvergleichlich leichten, nichtigen und erhitzenden Luft hier oben […]« schwenkt, kann dies kaum ein Versehen sein. Nicht bei jener Genauigkeit, die Thomas Mann ansonsten walten lässt. In jenem Passus, der sich ereignet, als Joachim, erneut schwerkrank, ins Sanatorium zurückkehrt, stellt sich also die Erzählinstanz mit dem bekannten Figureninventar des Sanatoriums auf eine Seite; Frau Ziemßen, Joachims Mutter, die seine Wiederkehr begleitet, jedoch auf die andere. Sie bleibt außen vor; wird auch sogleich wieder abreisen und erst dann zurückkehren, als Joachim bereits moribund ist …

Bevor wir den Tod jedoch zu Wort kommen lassen, scheint mir noch eine Anmerkung zum Lektüreerlebnis selbst angebracht, welche gleichsam auch den Bogen zu Marcel Proust schließt: Während des Lesens beider Romane entschleunigt sich auf erstaunliche Art und Weise die Zeit, wird bedeutungslos, nicht mehr fassbar, Langsamkeit legt sich über den Tag als friedliche Gelassenheit, und der irgendwann ob einsetzender Dämmerung geworfene Blick auf den akkuraten Zeitmesser der Uhr verblüfft: Wie könne es sein, dass Stunden vergangen sind, unbemerkt? 

Bloß der letzte Satz des Romans ließ mich dieses Werk erzürnt schließen. Weshalb? Hören Sie zu: 

»Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?« 

Das Pathos dieser Frage, ob irgendwann erneut eine Zeit des Friedens möglich sei, ist schwer verdaulich, verträgt sich auch nicht mit dem restlichen Werk. Am nächsten Tag, nochmals das gesamte Erzähluniversum Revue passieren lassend, mag man es Thomas Mann verzeihen, vor allem wenn man zurückblättert, an den Anfang:

 

»[…] die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, daß sie vor einer gewissen, Leben und Bewußtsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt … Sie spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat.«