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Hawthorne »Der scharlachrote Buchstabe«. Von Schuld & Sühne. Oder: die Kunst der Schönfärberei. Ehebruch III

Sattsam bekannt ist wie gerne wir den Splitter im Auge anderer sehen, den Balken im eigenen jedoch geflissentlich ignorieren. In »Der scharlachrote Buchstabe« von Nathaniel Hawthorne ist das Brandmarken jener, deren (vermeintliche) Schuld, offensichtlich wird, Volksport. Jedweder Verstoß gegen zuvor etablierte Normen dient dieser Gesellschaft auch als Ventil, um alle anderen Individuen in duckmäuserischer Angepasstheit zu halten und sie die gekonnte Scheinmoral zu lehren: Man verberge tunlichst jeden eigenen Regelverstoß, verbiege sich und halte geheim, bis der sogenannte Gewissenswurm einen zerfressenen hat, wolle man nicht ebenso ausgestoßen werden wie die weniger glücklichen Individuen, denen dieser Akt der Heimlichkeit nicht gelang. Das nennt sich dann Puritanismus.

 

Das Land der Verheißung

 

 

»Der scharlachrote Buchstabe«, ein Klassiker der Weltliteratur, erzählt die Lebensgeschichte Hester Prynnes, die sich im frühen 17. Jahrhundert in Boston, im Kreis einer puritanischen Gemeinde niederließ, wie zahlreiche andere Auswanderer*innen der ersten Generation auch, die sich in dieser neuen Welt ein besseres Leben oder ›mehr religiöse Ernsthaftigkeit‹ in diesem ›Land der Verheißung‹ erhofften. Ironisch kommentiert der Ich-Erzähler, dass dort zuallererst zwei Institutionen etabliert wurden: Friedhöfe und Gefängnis – beide offenbar ein unabdingbar notwendiges Zeichen der verheißenen Zivilisation (S. 57). Als Teil des Haft-Etablissements bedarf es natürlich eines Prangers – womit wir bereits mitten im Geschehen sind. Denn dorthin wird Hester Prynne, am Arm einen Säugling, geführt. Von ihrem Mann, ein im Vergleich zu ihr weitaus älterer Wissenschafter, der aufbrach, um indigene Völker und deren Heilwissen zu studieren, kann dieses drei Monate alte Kind unmöglich sein, gut zwei Jahre ist er doch bereits fort, verschollen, verstorben vielleicht sogar; auch Puritaner können rechnen … 

Des Ehebruchs ist Hester somit eindeutig überführt und dies durch die eigene kleine Tochter, die sie Pearl nennt. Nicht nur dass dieses Mädchen in weiterer Folge feenhaft geschildert wird, manchmal beinahe wie ein Koboldkind, Pearl spricht außerdem aus, was sie denkt, lehnt sich vehement gegen jedwedes Unrecht auf. Man könnte sagen, das kleine Mädchen agiert aus, was sich die Mutter verbietet.

 

Das lastende Schweigen

 

Denn diese stellt man an den Pranger, um sie zu zwingen, den Namen des Vaters preiszugeben. Hester aber schweigt beharrlich, weshalb sie fürderhin und bis an ihr Lebensende ein großes, scharlachrotes ›A‹ tragen muss – als Zeichen ihrer Schuld auf das Oberteil ihres Kleides gestickt. In der Gemeinschaft ist sie gleichfalls nicht mehr willkommen, und sie zieht in eine verlassene Hütte außerhalb des Dorfes. Almosen geben soll sie jedoch weiterhin, Teil ihrer Sühne, auch die Armen mit Kleidern beglücken, die ihr daraufhin ins Gesicht spucken dürfen, denn sie steht als Ehebrecherin ja noch weit unter ihnen. Es lebe die beruhigende Hackordnung! In die fügt Pearl sich nicht; im Gegenteil. Wenn es sein muss, vermöbelt sie auch alleine eine ganze Kindergruppe, die ihrer Mutter spotten.

Erst über die Jahre schwindet die Aggression der puritanischen Spießbürger. Hester wird zu derjenigen, an die man sich wendet, braucht man Rat und Trost oder Hilfe, denn ihre Verschwiegenheit ist einem sicher – wem soll die Ausgestoßene auch etwas erzählen?

Bald schon sind zwei Elemente jener Geschichte den Lesenden klar: Erstens, dass der Fremde ihr Ehemann ist, der just in dem Moment auftaucht, als sie in ihrer Schande am Pranger zur Schau gestellt wird und die gaffenden Weiber sich das Maul zerreißen, die Strafe sei zu mild, den Tod hätte sie verdient. Zweitens, dass der Vater eine hochstehende Persönlichkeit der Gemeinde sein muss. Wer, braucht hier nicht genannt zu werden, es ist auch nicht wesentlich. Interessant ist vielmehr die Dynamik im Trio aus Kindesvater, Hester  und Ehemann, wobei letzterer es sich von Hester ausbittet, in der Gemeinde auch in Zukunft unerkannt zu bleiben. Während der Ehemann nunmehr alles daran setzt, herauszufinden, wer unter diesen Menschen der Kindesvater sei, indem er gekonnt Wortmeldungen hier da und dort tröpfelt und beobachtet, wen das Gefühl der Schuld innerlich zerfrisst, schweigt Hester zu der Scheinheiligkeit der anderen sowie zu des Ehemannes Treiben viel zu lange. Unfähig eine Handlung zu setzen, den Lebensort zu wechseln oder sich auch nur von dem Alb zu befreien, den seine ›Schuld‹ ihm bereitet, schwindet der Kindesvater dahin. Als Hester aufgrund seiner sich rapide verschlechternden Allgemeinkonstitution ankündigt, das Stillhalteabkommen nach sieben Jahren zu beenden, dem Kindesvater die Identität seines angeblichen ›Freundes‹ und ihres Ehemannes endlich zu enthüllen, sie obendrein beschließt, den Geliebten auch örtlich aus des Ehemanns hasserfüllten Wirkungskreis zu entfernen, ist es bereits zu spät. Zu geschwächt durch die Mühsal, einen Schein aufrecht zu erhalten, um der Gemeinde als Ausbund an Moral zu gelten wiewohl er sich persönlich anders fühlt, stirbt er in Hesters und Pearls Armen – nicht ohne davor allen im Rahmen eines Festaktes die Wahrheit mitgeteilt zu haben. Und der im Schweigen begrabene Ehemann Hesters? Auch er machte während jener Jahre des Scheins eine Wandlung durch. Aus dem reflektierten, versonnenen und entspannten Gelehrten wurde eine von Rache und Hass zerfressene Fratzenkreatur, der seinen Widersacher nur einige Monate überleben kann. Es ist als wollte Hawthorne uns das Fazit nahelegen: ›Sei, wer du bist. Alles andere wird dich zerstören.‹

 

Brotjob, kreative Arbeit & der Mühe Lohn? 

 

So viel mal zur grundsätzlichen Geschichte, die auf jene Art paraphrasiert nicht weltbewegend klingt, oder?

Auch die Vorgeschichte differiert kaum: Der Ich-Erzähler, der sich zwar bereits im Literarischen Feld intern einen Namen gemacht hat, doch keineswegs in der weiten Welt etwas gelte, merkt an, es sei gut, sich das bewusst zu machen und einen ordentlichen Brotjob zu suchen; wie den seinen. Er sitzt vormittags im Zollhaus von Salem. Daher wisse er jedoch auch, solch geistlose Arbeit lähme durch Mattigkeit, selbst wenn der Vormittag nur eine knappe Zeitspanne umfasse, sei man danach zu erschlagen, um auch bloß eine sinnvolle Zeile zu verfassen. Interessant, dass es stets Frauen waren, die kreative Lösungen dieses Problem erdachten – Patricia Highsmiths ›zwei Tage an einem leben‹ sei als ein bekanntes Beispiel zwecks Anschaulichkeit erwähnt. Vermutlich hat dies jedoch auch den sozialgeschichtlichen Hintergrund, dass die Schriftstellerei bei Frauen bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nicht als Beruf galt, während Männer ja ›zu ernähren‹ hatten. Alleinstehende Frauen bekanntlich nie; ebensowenig Alleinerziehende. Wer jedoch etwas aus innerem Verlangen tut, wissend, dass jeder Klage sogleich die Antwort folgt, ›Dann lass es sein! Ich habe dir ohnedies immer gesagt, du, als Frau, kannst das nicht …‹, hält lieber die Klappe – und sucht nach einer Lösung.

 

Ein Hoch der Ironie!

 

Im Zollhaus, wo dieser Ich-Erzähler seinen Dienst matt absitzt, blüht jedenfalls ohnedies nicht gerade das Leben. Früher einmal, zur Zeit seines Ur- und Großvaters, in seiner eigenen Zeit hingegen herrsche das stille Ausharren. Auf eine weitere Änderung weist jener Ich-Erzähler hin: Seine puritanischen Ahnen würden noch als Tote mit Kopfschütteln auf seine Berufswahl reagieren (S. 14). An denen lässt er im Prolog so oder so kein gutes Haar; auch nicht an den Beamten: deren Dasein samt Sicherheitsnetz lähme jedwede Eigeninitiative (S. 49) bevor er erneut sarkastisch kommentiert  – »Der Augenblick da einem Menschen der Kopf abgeschlagen wird, ist wohl selten oder nie […] der angenehmste in seinem Leben.« (S. 52) – und mit uns den Pranger besteigt. Weshalb ich den Faktor der Ironie, welcher die ersten fünfzig Seiten prägt, derart betone? Weil sie sich mit dem Kapitelwechsel und dem Beginn von Hesters Lebensgeschichte gänzlich verliert. 

Die Technik, die Hesters Handlungsstrang dominiert, ist das Spiel mit dem Wissen: Es wird uns vorenthalten oder uns als Vorsprung gegenüber einer Figur gewährt – eine der einfachsten Methoden, um Spannung zu generieren. Und spannend ist »Der scharlachrote Buchstabe«, mag die Story auch noch so simpel scheinen, der Plot ist es nicht. Die Differenz zwischen beiden Termini, die im Alltag so gerne vermengt werden? Nun, der Plot ist der arrangierte Erzählstoff, d.h. die mit all ihren Zeitsprüngen, Raffungen, Vorausschauen und Rückblenden versehene Story, in welcher der Autor sein/e Erzähler*innen narrativ Kapriolen schlägt – wie die gute alte Spiegelszene zum Beispiel. Was das sei, fragen Sie? Ein narratives Element, das wiederkehrt, dadurch bedeutsamer wird als andere rundum, hervorgehoben also durch die Wiederholung, die jedoch unter anderen Vorzeichen erfolgt. So findet sich im »Scharlachroten Buchstaben« der Pranger drei Mal: Hester allein, die anderen sehen aus der Ferne zu / Kindesvater, Hester und die kleine Pearl in der Nacht – scheinbar ohne Zeugen (der omnipräsente Ehemann verbirgt sich im Dunkeln) / Kindesvater, Hester und Pearl stehen beieinander, er sagt vor allen Gemeindemitgliedern bei einem Festakt die Wahrheit und stirbt daran … Wäre das Figureninventar verschoben – d.h. andere Figuren am gleichen Ort mit ähnlichem Inhalt – oder die Örtlichkeit divergierend – verschiedene Location, gleiche Figuren, ähnlicher Inhalt – würden wir es Partialspiegelung nennen … Bildungsexkurs beendet. Versprochen.

 

Kehren wir stattdessen nochmals zur Ironie zurück. Ich behauptete oben, wiewohl sie den Prolog dominiere und dort manch schönes Bonmot liefere, verliere sie im weiteren Roman ihre Präsenz. Das ist so nicht ganz korrekt – es mutet durchaus ironisch an, erzählt man, dass Hester aufgrund ihrer Stickerei- und Nadelkunst just von all den honorigen Herren engagiert wird, die ihren Ausschluss aus der Gemeinschaft vorantrieben und beschlossen haben, aber nun doch gerne die Rede in Amt und Würden mit kunstvoll bestickten Handschuhen bestreiten wollen oder für ihr gehobenes Auftreten  besonders schöne Halskrausen, Manschetten und Totenhemden benötigen. Aber diese Spitzen kitzeln nicht mehr. Weder verleiten sie zum Auflachen noch stechen sie. Die Tragik der restlichen Handlung, welche bei weitem mehr Raum einnimmt, erdrückt sie. Selbst solche im Grunde genommen witzigen Sätze wie nachfolgender gehen in ihrem Kontext unter: Dort heißt es, da eine Figur während der Lektüre einschläft: »Es muß ein Meisterwerk der Einschläferungsliteratur gewesen sein.« (S. 147)

Ihre Ironie erreicht einen kaum mehr. Oder man reagiert erbost; zum Beispiel wenn der Kindesvater beteuert, Hesters Los sei bei weitem einfacher als das Seine, der seine Schuld verberge, um weiterhin Gutes tun zu können (S. 144).

›Humbug!‹, schreien wir.

Dass er es sechzig Seiten später wiederholt, macht seine Scheinheiligkeit um nichts erträglicher: »Du hast es gut, Hester, daß du den roten Buchstaben offen auf deiner Brust tragen kannst. Meiner brennt im geheimen.« (S. 204). Involviert während des Akts des Lesens, wie man eben ist – und das ist Hawthorne als Kunst anzurechnen! –, möchte man an Hesters statt brüllen: ›Du arroganter, verblödeter, dummer Feigling!  Steh zu dem, was du gemacht hast, und tu weiterhin Gutes. Ich kann es schließlich auch.‹

Es würde nichts ändern, denn mit zweierlei Maß wird gemessen, und für denjenigen, der es bis dahin noch nicht verstanden hat, wird es sogleich nochmals wiederholt: Der Kindesvater »[…] hingegen war niemals durch Erfahrungen gegangen, die ihn über die Grenzen allgemein geltender Gesetze hinausgeführt hätten, obwohl er sich in einem Falle gegen eines der heiligsten so furchtbar vergangen hatte. Doch da hatte er sich von der Leidenschaft hinreißen lassen – ohne es zu wollen [!], kaum der Sünde bewußt.« (S. 214) Schönreden ist wahrhaftig auch eine Kunst. Dass diese Exempel nicht ironisch wirken, sie ihren Biss verlieren, liegt auch an der Wahl der Erzählperspektive, welche die damals übliche Auktoriale ist. Der Versuch, es mittels Ich-Auktorialer samt zeitlicher Distanz des betrachtenden Blickwinkels zu lösen, kommt der Ironie in diesem Fall nicht entgegen. (Hier nicht als erinnerndes und erinnertes Ich ausgestaltet, sondern in Form eines Ichs, das vorgibt auf dem Dachboden des Zollhauses alte Chroniken gefunden und Hesters Geschichte erforscht zu haben.)

Doderers »Strudelhofstiege« wäre ein Beispiel einer gelungenen Ironisierung durch den auktorialen Blickwinkel, doch kann dessen Erzählen die narrativen Errungenschaften der Moderne nutzen – im Gegensatz zu Hawthorne mehr als einhundert Jahre früher. Sein Zeitgenosse wäre eher William Makepeace Thackeray – und mit Verlaub: Ich hatte vor 20 Jahren im Laufe meines Studiums schon einmal das Elend von ihm am Gängelband geführt zu werden. Das genügte mir. Verglichen mit Thackerays Erzählmodus ist Hawthorne spritziger Witz und erste Sahne, glauben Sie mir!