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Orwell »1984«. ›Alternative Fakten‹ – und eine täglich neu niedergeschriebene Vergangenheit

George Orwells Roman »1984« ist auch heute noch bedeutsam und liefert jede Menge Stoff zur Reflexion über totalitäre Regime.

 

Setzt man sich mit diesem bedeutenden Werk der Literaturgeschichte auseinander und will sich nicht in Gemeinplätzen verlieren, empfiehlt sich eine Fragmentierung. Man könnte den ›Großen Bruder‹ als Konstrukt thematisieren, die Partei oder die Rolle der Proles:

»Was die Massen meinen oder nicht meinen, wird als gleichgültig angesehen. Man kann ihnen intellektuelle Freiheit einräumen, weil sie keinen Intellekt besitzen.« (S. 358)

Wohingegen ein Parteimitglied »[…] in allen Lebenslagen ohne Nachdenken wissen [wird], was der richtige Glaube oder die erwünschte Emotion ist.« (S. 360) Es lebe die Indoktrination.

Es wäre denkbar, sich mit dem zwiespältigen Charakter O’Briens, der für die Hauptfigur zwischen Vertrautem und Verräter changiert und so das Doppeldenk – noch ein Thema! – verkörpert, zu beschäftigen:

»Bewußte Lügen zu erzählen, an die man ehrlich glaubt, jede unbequem gewordene Tatsache zu vergessen, um sich bei Bedarf wieder daran zu erinnern […].« (S. 365)

Das ist Orwells Doppeldenk: 2 plus 2 wird 5, weil die Partei es sagt. Und alle anderen auch.

Es ist auch durchaus vorstellbar sich Winston Smith und/oder Julia zu widmen, der Rolle des Gesangs in diesem Werk, dem Raum des ›Kastanienbaums‹, dem chinesischen Kästchens des von O’Brien verfassten Buches über die Partei und ihr System und dem Phänomen, dass während der Lektüre dieses Buches-im-Buch der Spannungsbogen eklatant abfällt … Zu viel bereits Bekanntes und kaum Neues findet sich darin, rafft bloß die zuvor erfolgte erzählerische Darstellung nochmals. Oder man könnte auch Neusprech betrachten – nehmen wir damit  Vorlieb, dies wirft gerade heutzutage genügend Denkstoff auf!

Orwells Neusprech ist eine bewusst konstruierte, erfundene Sprachvariante, die auf Altsprech – der gewachsenen Variante – basiert. Es folgt der Intention, das Vokabular zu minimieren und die Grammatik zu simplifizieren.

Klingt phantastisch, finden Sie? Schließlich wettern Sie gerne gegen ›veraltete‹ Begriffe, die sicherlich kein Mensch mehr braucht – wie ›darob‹ oder ›fürderhin‹, ›fürwahr‹ ist Ihnen obsolet, und Fremd- sowie Lehnwörter sind Ihnen sowieso ein Gräuel. Die dialektalen, umgangssprachlichen und regionalen Bedeutungsnuancierungen sind Ihnen ein Dorn im Auge, der norddeutsche Terminus hat zu genügen. Den versteht schließlich ein jeder. Wer benötigt schon über zweihundert Synonyme für ›lecker‹, zahlreiche davon sind Ihnen ohnedies bloß ein Austriazismus, Bavarismus. Teilt Ihnen jemand mit, das Wort ›wegen‹ braucht den Genitiv, und ›ob‹ ist ein durchaus kompetenter Begriff, um eine Kausalität zu betonen – bringt Sie solches höchstens zum Lachen. Überhaupt finden Sie es gänzlich albern, weshalb irgendwer sich noch mit solch absurden Fällen wie Genitiv und Dativ abmühen soll, beide lassen sich doch kommod ersetzen – und wenn es dennoch im Satzgefüge hacken und knarzen sollte, bemerkt diesen Lapsus ohnedies kaum ein Mensch mehr, der kein Schulmeister ist. Dem gebührt alsdann und sowieso zurecht jeder Spott, großzügig über sein antiquiertes Haupt gegossen. Anglizismen finden Sie sicherlich chic und schlanke, ranke Sätze – die vielgerühmte einfache Sprache – wecken ihre [sic!] Bewunderung – wer bedarf bitte sehr heute noch einer Höflichkeitsform? Sie nicht. Im Englischen wird schließlich auch einzig das Pronomen ›ICH‹ großgeschrieben … Was ausgezeichnet in den zeitgenössischen Duktus passt.

»Meine Güte, Sprache verändert sich eben«, sagen Sie – und haben damit natürlich recht. Wenn eine Veränderung jedoch gesteuert – und demnach intendiert – wird, gilt es zu prüfen, wem diese Entwicklung nutzt. Im Szenario des Romans »1984« von George Orwell ist die Antwort darauf eindeutig:

Der Macht, die sich ihre Macht (immer!) erhalten will!

Neusprech soll eine automatisierte Respons auf jede Frage ermöglichen – ohne dass der Sprechende auch nur eine Sekunde des Nachdenkens benötigt. Mehr noch: Der Zweck des Neusprechs ist das anvisierte Ende jedes eigenständigen Gedankens, deshalb wird das Vokabular bewusst und zielstrebig minimiert. Denn wofür es keine Worte gibt, das kann weder gedacht noch mitgeteilt werden. Es bleibt von dem dahinter liegenden Ereignis oder Gefühl einzig ein vager, diffuser Eindruck einer Irritation, etwas nicht Fass-, nicht Greifbares – sonst nichts. Diese Absicht wird neben der Eliminierung ganzer Wortscharen auch durch Tilgung einzelner Bedeutungsebenen erreicht.

Stellen Sie sich vor, ›-frei-‹ existiert ausschließlich in folgender Nuance:

›Der Hund ist frei von Flöhen.‹ 

Alle anderen Komposita oder Bedeutungsebenen des Wortes sind ausgelöscht. Keine ›Freiheit‹, der Terminus existiert nicht mehr. Vor allem jedoch: kein ›frei um dies oder das zu tun‹. Und ›freien‹ will ohnedies keiner mehr, in dieser Neusprech-Welt fern jeder Erotik oder Zuwendung zu einem Du. 

Just dem dient ja Sprache: in Kontakt treten, aus sich heraus gehen, Einblicke in das eigene Innerste gewähren, Nähe zu einem Du zu ermöglichen, sich im Du selbst zu erkennen, mit Empathie die verbindenden Bezüge zueinander zu nähren. In »1984«? Ist all dies keineswegs erwünscht, oder um es noch deutlicher zu sagen: Die wechselseitige Liebe zwischen Winston Smith und Julia bedingt die Zerstörung ihrer Persönlichkeit durch die Partei, da sich der Einzelne in solch einem Paarkonstrukt nicht mehr kontrollieren lässt, er im Du einen Rückhalt hätte;

»Wenn du fühlst, daß es sich lohnt, Mensch zu bleiben, auch wenn damit absolut nichts zu erreichen ist, dann hast du sie besiegt.« (S. 284)

Zweck des Neusprechs ist folglich auch die Kontrolle über die Begegnungen des Einzelnen, die durch mangelnde Sprachkompetenz möglichst unterbunden werden. Stereotype Satzkonstrukte, erstarrte Floskeln erleichtern den Machterhalt, da sie das Denken mindern.

Des Weiteren definiert Sprache unseren Begriff von ›Zeit‹. Sie lässt unsere Gegenwart fassbar werden, konkretisiert unser Erträumen einer Zukunft und schafft nuancierte Erzählungen der Vergangenheit. Tilgen Sie diese grammatikalischen Formen der Erinnerung bis auf eine – Sie denken, das habe keinerlei Konsequenz? Sie irren. Ihre Vielfalt organisiert die einzelnen Schichten der Vergangenheit unseres Seins. Ohne diese Ausdrucksformen wird auch das Vergehen der Zeit ein anderes, platt wurde nun, was zuvor Tiefe hatte. Und ohne die Formen des Konjunktiv können kaum alle erdenklichen Nuancen eines Zweifels ausgedrückt werden. Solch eine Intention – das Infrage stellen – muss in Neusprech natürlich mit Absicht unterbunden werden, ist doch ›Quaksprech‹, also Reden ohne dabei zu denken, das erklärte finale Ziel (S. 524):

»Jede Reduktion war ein Gewinn, denn je kleiner die Auswahlmöglichkeit, desto geringer die Versuchung zu überlegen.« (S. 524)

Die in »1984« von Kindheit an gepflogene ›geistige Schulung‹, welche darauf abzielt, die Heranwachsenden »[…] unwillig und unfähig [zu machen], über irgendein Thema zu gründlich nachzudenken […]« (S. 360), wirkt bedauerlich vertraut. Von der nicht mehr benötigten Handlung der Reflexion zu einem veränderten Umgang mit der Vergangenheit ist es bloß noch ein kleiner Schritt: Wer nicht nachdenkt, wird sich nicht erinnern. Wer sich nicht erinnert, wird nicht dagegen aufbegehren, dass plötzlich eine Vergangenheit oder eine Tatsache (2+2=4) als wahr verkauft wird, die Sekunden zuvor noch einer Unwahrheit entsprochen hätte (2+2=5) – die also falsch, gelogen, inkorrekt, als Dummheit belächelt oder schlicht der Versuch einer arglistigen Täuschung genannt worden wäre. ›Alternative Fakten‹ existieren nicht. Und Geschichtsfälschungen sind keine ›Korrekturen der Vergangenheit‹.

»Freiheit bedeutet die Freiheit zu sagen, daß zwei und zwei vier ist.« (S. 141)

 

2+2 ergibt fünf und Nomen sowie Verb sind eins, ›Denk‹ den ›Gedanken‹ sowie ›das Denken‹ beinhaltet, und ›denkbar, denkmöglich, erdacht, bedacht, verdenken, bedenken‹ und alle weiteren in der Bedeutung changierenden Varianten ausgelöscht werden, denken Sie nun immer noch, Sprache zu ›vereinfachen‹ sei ein Segen?

 

 

Zitiert nach:

Orwell, George: 1984. Ullstein Taschenbuch Verlag 2017.