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Andere S-EI-ten aufziehen. Oder der Wert des Lesens / nicht bloß am Welttag des Buches. 

Literatur ist ein Garten, den man in der Tasche trägt.
Literatur ist ein Garten, den man in der Tasche trägt.

Während meine 19 Kolleginnen und ich im Projekt »Arbeit statt Almosen« (https://www.startnext.com/fragmente)  gerade eben die Grundzüge von 20 möglichen Szenarien entwerfen, um sie Ihnen nach Ihrer Vorbestellung zur Lektüre zu offerieren, feiern wir den Welttag des Buches, und in meine Konzeptarbeit schleicht sich die Frage nach dem ›Wozu?‹: Wozu lesen? Und macht es einen Unterschied, was wir uns vor Augen halten? Für Verlage ist wenigstens zu 50% der Profit eine Antwort. Aber für uns Lesende? Wozu wahrhaftige Literatur lesen?

 

 

Wir wissen aufgrund von Studien der Gehirnforschung, dass sich während der Lektüre ein Netzwerk in unseren Köpfen entspinnt. Das Sprachareal verbindet sich mit dem visuellen Areal, jenes für Emotionen läuft auf Touren, und selbst das motorische Areal wird in Betrieb genommen, sollten wir davon lesen, dass ein Protagonist, nennen wir ihn Viktor, die breite Allee hinunterläuft. Wir sind an seiner Seite und nehmen mit ihm die umgebende Landschaft mittlerweile kaum noch wahr, mal abgesehen von den wiederholten Wechseln aus Schatten und Licht, fühlen die Wohltat des aufkommenden Windes, hören den Radfahrer, der Viktor seitlich auf der Nebenfahrbahn überholt und ein »Hopp auf! Weiter, weiter!« ruft, sehen die Applaudierenden am Wegrand, spüren den Schmerz im Bein, der sich verdichtet, den brennenden Atem, welcher nur noch ein Keuchen ist, das Stolpern, als der Krampf in der Wade einsetzt, sein Taumeln, sein Fallen … 

Viktors Scheitern bei diesem Marathon bewegt uns; schließlich haben wir seine Vorbereitungen mitverfolgt, machten uns Sorgen, weil sein Training die Beziehung zu seiner Freundin Miriam belastete, sie ihn obsessiv nannte, selbstzerstörerisch gar, was in uns den Verdacht nährte, sie könne sogar recht haben, gerade weil er diesen Vorwurf kategorisch abwehrt, aber andererseits sind wir auf seiner Seite, wollen, dass er sein gestecktes Ziel trotz all der Hindernisse, die sich ihm durch Beruf und Vatersorgen in den Weg stellen, erreicht. Wir fühlen mit ihm, als er seine Arbeit verliert, weil er einen wichtigen Auftrag vermasselt, wir identifizieren uns mit ihm, als er deshalb noch mehr denn zuvor seine Marathonpläne verfolgt, und denken über ihn nach, ja sein Sturz auf Seite 130 trifft uns derart, dass wir sogar über ihn sprechen, als wäre er Teil unseres Freundeskreises. Noch liegen weitere Seiten vor uns, und wir fragen besorgt, was er nun wohl tun wird: Aufstehen? Auf die Traumzeit pfeifen? Weiterlaufen? Aufgeben? Oder um es medizinisch auszudrücken: Unsere vernetzten Areale im Gehirn sind in Hochform, wie uns jede Computertomographie bestätigen könnte, da unsere Augen über einen längeren Zeitraum einem durchgehenden Text folgten, und wir uns in die Erzählung involvierten.

Jene Art des Lesens meine ich, spreche ich von Lektüre und ihrem Benefit. Sie hat nichts mit dem raschen Überfliegen einer E-Mail, eines Recherchetextes oder eines Artikels gemein, selbst die Augenbewegungen sind dabei andere, denn wir suchen bei letzteren Textsorten vor allem nach einem: dem Kern der Botschaft, die dringend benötigte Aussage. Wir überfliegen gehetzt Zeilen. Manchmal mit frappierender Ungenauigkeit, die den Textinhalt, unterlegt mit unseren mitgebrachten Emotionen und Gedanken, regelrecht zu verzerren versteht. Wir erwarten eine Ablehnung in der langersehnten E-Mail, und sie wird darin stehen, obendrein mit zynischen Worten bereichert, die anderntags und vorurteilsfrei betrachtet nichts als lapidare Floskeln sind, denen wahrscheinlich keine Verletzungsabsicht innewohnt. Kennen wir alle, nicht wahr?

Die Textsorten, bei denen wir uns das hurtige Überfliegen angewöhnt haben, auch um mit ihrer ausufernden Menge klarzukommen, in der sie auf uns einströmen, wie heftiger Graupelschauer, stellen in unserer Gegenwart den häufigsten Leseakt dar, und es verhält sich hier so wie bei allem anderen: Was wir trainieren und einüben, eignen wir uns an, steuern wir nicht bewusst entgegen. Greifen wir dann abends zum Buch, der Bildschirme müde, so stellen wir fest, es klappt nicht. Legen Anna Karenina beiseite und Felix Krull, finden nicht in Malina und selbst das Zugangstor des Zauberbergs verschließt sich. Frustriert schnappen wir uns den nächsten Regionalkrimi, den Liebesroman, wundern uns zwar über uns, aber wenigstens lesen wir, nicht wahr?

 

Dabei sollten wir viel eher Innehalten und uns fragen, was mit uns aufgrund unseres beruflichen Alltags, der fortwährenden Seins an mindestens drei Orten – bei uns, in Foren, auf Webpages – geschehen ist. Es kann doch wohl nicht sein, dass wir verlernten, was uns einst Vergnügen wahr, oder? Und wie sollen wir dann unsere Kinder noch für Lektüre begeistern?

Es tut gut sich daran zu erinnern, dass uns beim  Manöver des schnellen, gehetzten, überfliegenden Lesens die Literatur per se einen dicken roten Strich durch die Rechnung macht, und je gelungener das literarische Werk, um so fetter wird er ausfallen. Sie entzieht sich jenem Flugakt mit Überzeugung und Protest, mahnt Langsamkeit und gewährte Zeit ein, will uns Ruheinsel sein, damit wir in ihren Erzähluniversen versinken.

Als ich Kind und Jugendliche war, wertete man dieses Versinken in Erzählungen noch als Flucht vor der Realität, was selbst in optimistischsten Ohren nie positiv klang. Wie so viele vermeintliche Wahrheiten, erkannte man auch bei dieser die andere Seite erst Jahrzehnte später: Unser uns Einfühlen in Viktor, welches bewirkt, dass wir in seiner Geschichte eines Lebenstraums versinken, nährt unsere Fähigkeit zur Empathie. Wir haben nicht bloß mit ihm die Erfahrung eines gesetzten Ziels, einer Anstrengung und zahlreicher Hindernisse gemacht, uns in seinen Selbstzweifeln wiedererkannt, sondern obendrein mit ihm getrauert, neuen Mut gefasst, entscheidende Schritte unternommen. Dieser innere Prozess des Mitfühlens während der Lektüre ist ein grundsätzliches Element unseres Menschseins; und die Fähigkeit ein wesentlicher Faktor für jede Demokratie. Deshalb ist es nicht unwichtig, welche Bücher wir lesen! Stereotype Charaktere, eindimensionale Figuren, absehbare Handlungsverläufe – mit einem Wort Mainstreamware –, wird uns dabei keinen Millimeter weiterbringen, wiewohl man natürlich darin versinken kann, halbe Seiten ungelesen passieren, denn es ist sowieso klar, worauf die Geschichte hinauslaufen wird. Ich nenne jene Bücher gerne »Sommerkuss in St. Tropez mit Spätfolgen«, und es ist dabei gänzlich irrelevant, in welchen Genreklamotten sie einherstiefeln. 

Literatur ist ein Garten, den man in der Tasche trägt.
Literatur ist ein Garten, den man in der Tasche trägt.

Wahrhaftige Literatur, die Narration als Kunst begreift, kann aber noch viel mehr als Gehirnvernetzung und Empathiebildung: Sie schult unseren Geist, gerade durch ihre Manöver, die sich jedwedem Überfliegen entgegenstellen. Sie kaut uns nichts vor, sie bewertet die Ereignisse nicht, interpretiert keine Redebeiträge für uns, sie zeigt uns eine verwobene Handlung, deren einzelne Puzzleteile wir erst zusammensetzen müssen, und deren vielschichtige Charaktere sich jedem Schwarz-Weiß verwehren. All das leisten wir als Leserinnen und Leser ohne es zu bemerken, denken mit, sinnen nach, bilden uns eine Meinung, urteilen, verwerfen Schlüsse und ziehen neue. Wir sind bei wahrhaftiger Literatur einzig dazu aufgefordert, uns den Luxus der Zeit zu nehmen. Diese Entscheidung aber lohnt sie uns tausendfach: Der Herzschlag verlangsamt sich, kreisende Gedankensorgen schwinden, Ruhe kehrt ein. Und sollten wir doch noch einmal zurückblättern wollen, weil wir uns nicht so genau erinnern, was denn Miriam ihrem Viktor wirklich vorwarf, so können wir problemlos zu jener Passage zurückkehren: In unserem Gedächtnis steht ja fixiert, dass es der zweite Absatz links war, knapp nach einem Kapitelbeginn, die gelesenen Seiten rund einen halben Finger hoch, und wir erinnern uns, dass wir die Lektüre danach unterbrachen, die Hand als Lesezeichen nutzten, weil wir aus der Badewanne stiegen, und wie wir während des Abtrocknens darüber nachdachten, ob unser Freund Toni den Sportfimmel seiner Partnerin Martha gleichfalls obsessiv nennen würde, uns dünkte es ja schon seit längerem so. Schließlich hat sich ihr gesamtes Leben danach zu richten. Und wir riefen Julia an, die uns diesen Roman empfahl, um im Gespräch mit ihr zu entdecken, dass sie bei aller Gemeinsamkeit offenbar dennoch ein graduell anderes Buch gelesen hat, da die Leerstellen im Werk von ihr anders gefüllt wurden als von uns. Kein Wunder, sie ist ja auch ein anderes Individuum … und so machen wir die Erfahrung des Reichtums! Denn Lektüre beschenkt uns ohne zu zögern: Die gelesene Geschichte verbindet sich in uns mit unseren Gedanken, unserem Leben, sie beschäftigt uns, und so kommt es, dass wir Jahre später, während wir an unserem Buchregal entlangspazieren, Viktors Rücken plötzlich darin bemerken, und das Gefühl haben, einen Freund zu treffen. Alles kehrt wieder: Unsere Emotionen während des Leseakts, unsere Gedanken, wir sehen den herrlichen Sommersonntag vor uns, die Landschaft unseres Gartens, uns darin, Viktor in Händen, erinnern uns an seine Suche, an sein Mühen, sein Scheitern, seinen Sturz – und an sein Aufstehen, Sich-Hochrappeln, sein Weiterhinken, weil er sich dort am Straßenrand der Allee hockend gesagt hatte: »Pfeif auf die Zeit! Die ist nicht wichtig. Was du wolltest, irgendwann mal, am Anfang, bevor du mit all dem begonnen hast, dem Training, der Ernährungsumstellung, den Plänen und fixen Ideen, das war doch etwas ganz anderes. Du wolltest ein Ziel erreichen, du wolltest umsetzen, was du dir vorgenommen hattest, einmal im Leben einen Marathon laufen. Dann rapple dich hoch und mach dich auf die Socken.« Was wir vielleicht nicht bemerken, ist, dass wir dabei unseren Wortschatz erweiterten, unsere Vorstellungskraft nährten, das Erinnerungsvermögen jung und fit hielten, wir uns mit Aspekten menschlichen Lebens wie Zielsetzung, Anstrengung, drohendem Scheitern auseinandersetzten, sie in unseren Erfahrungsschatz als inneren Reichtum eingemeindeten. Wir spüren nur, da grüßt ein Freund, aus dem Bücherregal, erinnern uns an die Glücksgefühle, als er mehr schlecht als recht wieder auf zwei Beinen stand, Fuß vor Fuß setzte, um die Kurve wankte, vorne schon, am Horizont das große Banner ›Ziel‹ vor Augen; und selbst in unserer Erinnerung daran, schütten wir noch einmal Serotonin aus, denn sein Sieg war ein klein wenig auch der unsrige, und das ist gut so; ja, Viktor könnte Ihnen in »Fragmente: Die Zeit danach« begegnen oder Miriam, die sich darüber Gedanken macht wie der Irrsinn unserer Arbeitswelt ihren Mann und sie veränderte … 

 

P.S.: 

Noch ein Wort zu den Seiten, die in buchaffinen Ohren klingen wie Saiten, jeden Klangraum einer Erzählung mitbestimmen. Doch natürlich schreibt sich die Redewendung bis zum gegenwärtigen Tag mit -ai-: andere Saiten aufziehen. Aber es sei uns gestattet, mit Wörtern zu spielen … Und es bedarf eben dringend anderer Seiten und Saiten!