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Virginia Woolfs »Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen«

Ausgangspunkt ist die briefliche Anfrage, wie lasse sich Krieg verhindern. Verbunden mit der Bitte um finanzielle Unterstützung, wenn man die Sichtweise des Verfassers teile. Mehr als drei Jahre, so heißt es im Intro, blieb dieser Brief unbeantwortet; nicht weil er als ›irrelevant‹ beiseitegeschoben worden war, im Gegenteil, sondern weil er eine entscheidende und komplexe Frage stelle. Vor allem aber auch, weil er »in der Geschichte der menschlichen Korrespondenz vielleicht einzigartig ist, denn wann hat ein gebildeter Mann je zuvor eine Frau gefragt, wie ihrer Meinung nach ein Krieg verhindert werden kann?« (S. 5)

Dieses Ansinnen erstaune. Schlicht und ergreifend, weil Frauen jahrhundertelang als Menschen zweiter Klasse galten, im Haushalt gefangen, das Familienvermögen einzig für den Bildungsfonds der Söhne verwendet wurde.

Der Brief nehme die Frage zum Ausgangspunkt für seine Bitte um eine Unterschrift auf der Veto-Liste, ersuche um den Beitritt zu einer neugegründeten Gesellschaft, die das Ziel des Friedens verfolge und frage für diese um eine Spende an. Alles Anliegen, denen man bedenkenlos folgen könne und die keine drei Jahre der Reflexion bräuchten, lägen diesem Brief nicht Fotos von Kriegsgräueln bei. Selbst wenn man spende, bliebe das durch dieses Bildmaterial ausgelöste Gefühl der Abscheu: Es bräuchte mehr als bloß eine Spende. Was aber, so die Antwortbriefschreiberin, könne eine Frau tun? Für den Frieden kämpfen? Das sei ebenso eine Option der Männer wie die zu jenem Zweck eingesetzte Macht an der Börse, ein Engagement im diplomatischen Dienst, in der Kirche, in der Politik oder in einem der anderen die öffentliche Meinung bestimmenden Beruf. Denn alle Waffen, um die eigene Meinung durchzusetzen, ihr zu Reichweite zu verhelfen, liegen außerhalb der Sphäre der Frauen, die – würden sie sie benutzen – »kaum einen Kratzer« (S. 20) verursachen könnten, denn »Einfluss [muss sich] mit Vermögen verbinden […], um als politische Waffe wirksam zu sein […].« (S. 24) Es bedürfe also – vor einem Veto, einem Beitritt zu einer Gesellschaft und einer Geldspende – nicht nur des Rechts zu arbeiten, sondern der Chance, damit auch den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Um dies zu ermöglichen, tue Bildung not – und hier wird Virginia Woolfs brillanter Essay nicht nur aus historischer, sondern gleichermaßen aus aktueller Sicht interessant: Kann Bildung einen Krieg verhindern? Wer in die Annalen der Geschichte schaut, weiß die Antwort, denn Männer, Produkte des jahrhundertealten Bildungssystems haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs en gros den Krieg verteufelt, im Gegenteil, sie sahen ihn als Aufgabe ihres Patriotismus an. Offenbar, so die Briefschreiberin, laufe da also etwas entscheidend schief, wenn ihnen weder Harvard noch Oxford je beigebracht hätten, emphatisch und friedvoll zu teilen, sondern Neid, Konkurrenz und ein Einzementieren der Klassen eher die Konsequenzen dieser sogenannten ›Bildung‹ wären. Dass sie für Frauen ein Schlupfloch aus der »Sklaverei« (S. 27) sei und nottue, um nicht in der Abhängigkeit eines Kindes in der Übermacht eines Patriarchen zu verharren, das stellt Woolf nicht in Abrede, fordert aber zugleich eine andere Bildung. Und das Recht, mit dieser anderen Bildung alsdann auch Posten zu bekleiden, die einem den Lebensunterhalt sichern, um nicht als hochausgebildete Frau einer Arbeit nachgehen zu müssen, die man dem gleichgestellten Kollege ohne jede höhere Ausbildung zutraut. Schon sind wir bei Gehaltstabellen angekommen; und dem, was wir heute Gleichstellung, Fair Pay und gläserne Decke nennen. Oder bei der Frage, wieso in den Biografien berufstätiger Männer immer vom erschöpfenden Kampf im Beruf die Rede sei: Was stimmt mit unserer Arbeitswelt nicht, wenn sie sich «laut Zeugnis der Biografien ebenso blutrünstig [zeigt] […] wie im Beruf der Waffen selbst. Es stimmt, dass die Kämpfer keine Fleischwunden schlugen, das verbot die Ritterlichkeit, aber Sie werden zustimmen, dass ein Kampf der Zeit verschwendet, ebenso tödlich ist wie ein Kampf, der Blut verschwendet. Sie werden zustimmen, dass ein Kampf, der Geld kostet, ebenso tödlich ist wie ein Kampf, der einen Arm oder ein Bein kostet. Sie werden zustimmen, dass ein Kampf, der die Jugend zwingt, ihre Kraft in das Geschachere in Ausschussräumen zu stecken, in das Buhlen um Gefälligkeiten, sich eine Maske der Ehrerbietung aufzusetzen, um den Spott zu verbergen, dass dieser Kampf dem menschlichen Geist Wunden zufügt, die keine Chirurgie heilen kann. Selbst der Kampf um gleichen Lohn für gleiche Arbeit findet nicht ohne Zeitvergießen, ohne Geistvergießen statt […].« (S. 105)

All diese Kämpfe, unmenschlich und unnötig, einzig einem Gesellschaftssystem geschuldet, das auf Konkurrenz und Insignien der Macht aufbaut, einer Arbeitswelt, die aus uns »Krüppel in einer Höhle« (S. 119) macht. Dies gelte es zu ändern, was wiederum nur mit politischem Einfluss und finanziellen Ressourcen zu bewältigen sei, was Bildung benötige. Wird diese Schlussfolgerung um die Reflexion der Gegebenheiten ergänzt, so wandert die erste Guinee an ein Frauencollege – mit einer langen Liste an Forderungen, wie sie einzusetzen sei, damit das Grundübel nicht genährt würde, der »Verstand nicht um des Geldes willen […] verkauf[t]« (S. 132): Keuschheit müsse neu definiert werden und Freiheit von unechten Loyalitäten vermittelt, worunter sie Nationalstolz, religiösem Stolz, Stolz auf das besuchte College oder die absolvierte Schule, die Herkunftsfamilie, das Geschlecht versteht (S. 133), denn »[…] einen Geist zu verkaufen ist schlimmer, als einen Körper zu verkaufen […].« (S. 153) Geistige Prostitution zeige sich auch darin, dass Literat*innen um des Lebensunterhalts wegen etwas schreiben, das sie nicht schreiben wollen. Oder wenn sich Kultur prostituiere, weil sie sich mit Reklame und Öffentlichkeitsarbeit vermenge (S. 153–154). Prostitution sei es auch, wenn sich Frauen als ›Frau von‹ definieren. Damit all dies ende, habe Care Arbeit in Ehe und Mutterschaft vom Staat bezahlt zu werden (S. 182); obendrein sei bedacht, dass manche (Frauen und Männer) diese soziale Arbeit Zuhause schätzen und als ihren Beruf genießen würden,  stünde er nicht als unbezahlte Reproduktionsarbeit, nicht entlohnt und nicht verrentet, in Nähe zur Sklaverei (S. 183). Als bezahlte Tätigkeit aber, würde sie auch für Männer attraktiv werden, was den unbestreitbaren Vorteil hätte, dass sie ihre Kinder aufwachsen und die Obstbäume blühen sehen könnten (S. 183). Und nein, der Gedanke sei nicht sonderbar, es liege eigentlich auf der Hand, dass »[…] der Staat Ihrer Frau ein Grundeinkommen [!]  für ihre Arbeit zahl[t], die so heilig sie ist, kaum heiliger genannt werden kann als die des Geistlichen, und da seine Arbeit bezahlt wird, ohne seinem Ruf zu schaden, könnte auch ihre bezahlt werden […]« (S. 184), dann zerbräche die alte Tretmühle der Arbeitswelt und »[…] der halbe Mann könnte ganz werden.« (S. 184) Und auch das (Arbeits)Leben der Frauen, so müsste man aus heutiger Sicht hinzufügen: Das befreite sie zwar von der Tugend der Unsichtbarkeit, verschaffte ihnen jedoch auch die gleiche Halbierung, die Woolf so scharfzüngig für die Männer ihrer Zeit belegt.

Denn die Wurzel allen Übels – und deswegen verwehrt sich die Briefschreiberin auch gegen ihres Erachtens kraftlose Etiketten wie ›Feminismus‹ oder ›Emanzipation‹, die nichtssagend und korrupt seien (S. 226) –  sei »die infantile Fixierung der Väter« (S. 226) auf ihre Macht als Patriarchen: Sie bedinge, dass Männer denken, sie hätten in ihrer Männlichkeit versagt, könnten sie die Familie nicht allein ernähren (S. 229), dass sie glauben, sie müssten Mädchen und Frauen in ihrer Umgebung abwerten, sich als Tyrann und Diktator gebärden, um die eigenen Minderwertigkeitsgefühle zu bewältigen.

Virginia Woolf, die klar erkennt, dass Geistiges und Materielles, Öffentliches und Privates untrennbar miteinander verbunden sind (S. 236), zieht vom Familientyrann den Bogen zu Hitler und Duce. Erst wenn wir in einer Gesellschaft angekommen sein werden, in der alle Menschen gleichwertig akzeptiert und respektiert werden, in der die Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sich durchgesetzt haben, weil wir endlich verstanden haben, dass uns unser gemeinsames Interesse verbindet, wir eine einzige Welt haben und ein Leben, das wir gestalten können, ein Sein, in dem wir »neue Wörter und neue Methoden« (S. 237) erproben, erst dann werden wir Kriege verhindern können.

 

Virginia Woolf: Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen. Übersetzt von Antje Rávik Strubel. Zürich: Kampa Verlag 2021.