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Nancy Hustons »Infrarot« Oder: Wenn man dir sagt, dass du nichts bist, folgt die Auslöschung – oder deine Behauptung!

War es in »Ein winziger Makel« ein Muttermal, das den Stein des Erzählens ins Rollen bringt, so ist es in »Infrarot« ein Satz, den Rena, damals noch ein Teenager, ihrer Mutter gegenüber fallen ließ und nach dessen Laut-Werdung nichts mehr so ist, wie es war. Was damit in Gang gesetzt wurde, ist aber keineswegs der Inhalt des Romans. Es ist auch nicht Kern des Dramas, das Leben prägte, sondern vielmehr ist es eine der Auswirkungen vorangegangener Ereignisse. Das relevante Geschehen entzog sich damals für das Kind Rena der Sprache; und tut dies in gewisser Weise bis zum Tag der Handlung. Eine viel zu früh einsetzende Sexualisierung, Übergriffe des Bruders, eine sexuelle Beziehung mit Sado-Maso-Grundzügen eines Therapeuten, Freund des Vaters, mit der Teenager-Tochter – viel Stoff, der sich im Laufe einer Kindheit und Jugend ansammeln kann. Er könnte traumatisch lasten, doch Rena geht einen anderen Weg. 

All das schwelt im Hintergrund der Erzählhandlung, die damit beginnt, dass Rena, mittlerweile selbst Mutter und in wenigen Wochen selbst Großmutter, mit ihrem alternden Vater und dessen zweiter Frau eine letzte gemeinsame Reise durch die Toskana unternimmt: Acht miteinander verbrachte Tage, unzählige Kunstschätze und noch weitaus mehr Stolperfallen für dieses ungleiche Gespann und seine komplexe Vorgeschichte. 

Simon, der Vater, ist ein jüdischer Historiker, der einst hochfliegende Forschungspläne hatte, die stets scheiterten und der seiner Tochter weitaus näher stand als alle anderen Familienmitglieder, zu denen Rena auch keinen Kontakt mehr hat, weder zum deutlich älteren Bruder, für den sie als Kind alles getan hätte, noch zur abwesenden Mutter, eine höchst couragierte und engagierte Anwältin, welche die Familie verließ, als Simon ein Verhältnis mit einem 20-jährigen Mädchen begann, das aufflog, weil er im Hotel ausrastete. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden, um das Spannungskonstrukt des Romans im eigenen Lektüreprozess nicht zu stören. 

Simon ist zu dieser letzten gemeinsamen Unternehmung aus Montreal angereist, gemeinsam mit Ingrid, seiner zweiten Frau, die sich zwar mehr für die italienische Küche interessiert als für Palazzi, Museen, Gemälde oder Statuen, mögen sie tausend Mal von Michelangelo sein, doch will sie über Simons Ruhezeiten wachen. Ihr Verhältnis zu Rena ist seit jeher nicht unkompliziert, die tendenzielle Skepsis, die beinahe an Missachtung grenzt, ist beidseits. Rena stößt sich an Ingrids Engstirnigkeit, Ingrid an Renas Unkonventionalität. Weder kann sie Renas Beruf, die Fotografie, verstehen noch ihren Lebensstil in Paris, wo Rena für ein Magazin tätig ist: All diese gescheiterten Beziehungen, mehrere Kinder mit verschiedenen Vätern … Wenigstens weiß sie von Renas Leidenschaft – der Abbildung von Männerakten, vorzugsweise erhitzt, nach dem Sex, mit einer Infrarotkamera – nichts.

Acht gemeinsame Tage, die Rena im Dialog mit ihrer imaginären Freundin Subra verbringt, um sie zu überstehen. Dieses Wesen begleitet sie seit Kindheitstagen oder um es genauer zu sagen: Als ihr Bruder in ein Internat kam und sie allzu oft allein im großen Haus war und sich ängstigte, man würde auch sie fortschicken, sage sie auch nur einen Mucks oder ›störe‹ sie gar, sah sie das Foto eines Mädchens im weißen Kleid, in Traurigkeit erstarrt. Ein Werk von Diane Arbus, die zu Renas Idol wird: Ist es möglich, solche Dichte in eine Momentaufnahme eines Lebens zu bringen, dann wolle auch sie, Rena, Fotografin werden!

Und man versteht: Subra ist Arbus – von hinten nach vorne gelesen.

Ebenso wie Diane Arbus, deren Reflexionen zur Kunst, zur Fotografie mit der Handlung dieses Romans verflochten sind, spielen auch Renas Träume eine Rolle:

Jedes Kapitel wird von einer solchen Traumerzählung eingeleitet, die in nüchternem Stil wiedergegeben werden, als hätte jemand sie Sekunden nach dem Erwachen kurz skizziert oder als würde ein*e Therapeut*in das Traumgeschehen eines Klienten, einer Klientin festhalten. Diese Sequenzen sind Teil der Mehrschichtigkeit, sie korrespondieren mit dem Kapitelinhalt, bauen aber auch aufeinander auf. Sie treten rund um das Geheimnis zutage, an dessen Spitze der eine ausgesprochene Satz steht. Und sie stehen in verwobener Kommunikation mit den Reflexionen von und zu Diane Arbus und den Männerakten.

Die im Zentrum stehende Geschichte einer viel zu früh erfahrenen Sexualisierung, umgeben von einem Geflecht aus Abhängigkeiten zu männlichen Figuren, die ihre Macht missbrauchen, wird nicht als Leidensgeschichte präsentiert – und das ist eine der erstaunlichen Wendungen –, sondern Rena nutzt für den Umgang mit dieser Erfahrung ihre Kamera, selbst wenn eine Fokussierung auf das Thema bleibt, gepaart mit Macht-Ohnmacht.

Wie auch beim zweiten Fotografen, der in diesem Roman Thema wird, Nobuyoshi Araki – wenig erstaunlich, diese Wahl, für denjenigen, der seine Bilder kennt, die häufig Frauen im Kimono mit entblößter Vulva zeigen, gerne auch an Seilen hängend.

Im Roman führt seine Passion für das weibliche Geschlecht, die sich sogar in seiner Naturfotografie prägend abbildet, Rena zu einer ihr Leben verändernden Erkenntnis. Eingeleitet wird diese noch recht allgemein:

»Dass die Männer den Körper der Frau seit Uhrzeiten von allen Seiten befummelt, gezeichnet, geknetet, in Stein gehauen, gefilmt, gemalt, fotografiert, erforscht, phantasiert, erträumt, ausgesponnen, verschleiert, entschleiert, versteckt, enthüllt, bearbeitet, dekoriert und verbannt haben, liegt daran, dass sich alles um das um das um das dreht: um diesen Strudel, aus dem sowohl Jungen als auch Mädchen hervorkommen, diese Öffnung, die nicht, wie Freud behauptet, die Kastration verkörpert, was für ein Gedanke, sondern das Nichts vor und nach dem Sein. Wenige Frauen haben hingegen das männliche Glied gemalt oder fotografiert […]« ( S. 159), selbst Rena in ihren Männerakten nicht. Sie interessiert vielmehr »das unsichtbare Universum der Wärme« (S. 159) in ihrer Kunst. Und in ihrem realen Leben der sexuelle Akt, den sie mit Vorliebe steuert und nicht nur ihre Macht über die Erregung ihres Partners in vollen Zügen genießt. 

Ein Abbruch dieser schwierigen Reise, bei der Simon von Tag zu Tag müder und fahriger, vergesslicher wird, sodass Rena sich fragt, ob er unter beginnender Demenz leide und Ingrid immer häufiger auf einer Siesta, einem späten Aufbruch oder einem frühen Ende beharrt, käme auch einem Ausweichen gleich. Rena aber will sich den vergangenen Konflikten, die in den Träumen zusehends virulenter werden, stellen. Mitten in diese belastete Gegenwart poppt am vorletzten Tag ein Anruf von Patrice Schroeder, ihrem Chef in Paris, der ihr befiehlt, ihre Urlaubswoche sofort abzubrechen und zurückzukommen, denn in der Banlieue der Stadt brodle es, man brauche sie als Fotografin. Auch Aziz, Renas Partner, der für das gleiche Magazin arbeitet und der in der Banlieue aufgewachsen ist, insistiert: Wenn Rena nicht sofort käme, zeige sie auch, dass sie keine von ihnen und keine Frau für ihn sei: Dass sie »nichts« sei (S. 318). Diese Aussage droht, Rena den Boden unter den Füßen fortzureißen, sie auszulöschen. Sie flieht in die Toilette des Gasthauses, tritt ans letzte Waschbecken, erwartet im Spiegel nichts zu sehen als die Kacheln gegenüber und steht dennoch ihrem Abbild gegenüber – diese Erfahrung verbindet sich mit der Erinnerung an die letzten Fotos Diane Arbus’ und mit der Frage, woher deren »wahnsinnige Neutralität« (S. 319) kam: Ihre Weigerung zu werten, die bewirkte, dass sie sich immer nur für das Einzelne interessierte, für ihr gegenwärtiges Gegenüber, sodass sie alles andere ausblendete, auch die Ungerechtigkeit: »Die Akzeptanz des anderen bis zu Inexistenz.« (S. 319), so fasst Rena es in ihren Gedanken zusammen. 

Sehen, wahrnehmen, wiedergeben, das wollte Arbus, und Rena fragt sich plötzlich: »Was hatte sie gesehen […]? Was hatte sie während ihrer Kindheit in New York durchlitten, in dieser reichen jüdischen Familie, deren Privilegien sie hasste? Welches Böse hatte sie eines Tages in Gutes verwandeln müssen, um, wie sie es tat, stets die ethischen Nuancen zu nivellieren? Ich bin auch etwas, Aziz.« (319)

Hier zeigt sich auch das Grandiose an diesem Roman:

Nicht die Schonungslosigkeit oder die mutige Offenheit, die gerne in den Rezensionen betont wurde. Das Grandiose an diesem Roman ist das Faktum, das Arbus’ Haltung des Ablichtens an den Leser, die Leserin weitergegeben wird, ohne je das Erzählte zu werten. Die implizite Lese-Aufforderung lautet: ›Ich gebe dir alle Ingredienzien, nun mach du dir deine Gedanken, komm zu deinen eigenen Schlüssen. Was du mit diesem Puzzle machst, das bleibt dir selbst überlassen.‹

Nicht umsonst ist dem Roman ein Zitat der Gebrüder Grimm vorangestellt, das erst am Ende des Romans Sinn macht: »Nimm meine Wunde, denn durch sie 

Kann die ganze Welt in dich eindringen.«

Ich konnte nicht herausfinden, woher dieser Zweizeiler stammt, in welchem Kontext er steht, doch thematisiert er in seiner komprimierten Form Relevantes im Hinblick auf Arbus, ihren Umgang mit den Menschen, die sie porträtierte, die ihr nie Objekte waren; und auch im Hinblick auf Rena und ihre Kindheit, Jugend. Das Zitat sagt auch Essenzielles mit Blick auf den Lesenden: Wer sich auf diesen Inhalt einlässt, die Wunde sieht und lesend gleichfalls in sich aufnimmt, kann dadurch Welt begegnen. Wer sich dem entzieht, weil Ekel evoziert wird, verliert diese Chance. (Bei Dschalāl ad-Dīn ar-Rūmī gibt es übrigens einen recht ähnlichen Vers, der genauso passend wäre: »Eine Wunde ist ein Ort, über den das Licht in Dich eindringt.«)

Und während in Frankreich der Ausnahmezustand verhängt wird, entdeckt man im Krankenhaus, in das Renas Vater nach einem Sturz eingeliefert wird, in seinem Gehirn ein Gliom, einen Tumor des Nervensystems.

Und Rena?

Bleibt. Sitzt mit Ingrid »Seite an Seite, um nicht zu sagen aneinandergeschmiegt« (S. 327), wartend darauf, dass die Überstellung des Vaters nach Montreal möglich wird und seine sofortige Behandlung dort beginnen kann. 

 

Quelle:

Huston, Nancy: Infrarot. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz (Originaltitel: Infrarouge). Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2012.