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Anna Fodorová über das Altern ihrer Mutter, der Autorin Lenka Reinerová. Oder: eine feine Überraschung.

Nein, ich hatte sie gar nicht lesen wollen: ›Abschied von meiner Mutter‹, das klang als Untertitel nicht verführerisch. Obendrein wurde es mir mit den Worten »Das wird Ihnen gefallen!« von einer mir fremden Person nahegelegt, und ich war zu erschöpft, um abzuwehren.

Einige Nächte später, nach einem langen Arbeitstag, als ich zu müde war, um die Lektüre eines sehr komplexen Werkes fortzusetzen, griff ich nach dem weißen Buch mit dem Konterfei der tschechischen Granddame der Literatur am Cover – nur ein paar Seiten, um danach das Licht abzudrehen und einzuschlafen. Und in der folgenden, der wiederum folgenden und auch in der Nacht danach: zwei, drei Kapitel, um mich alsdann bereits auf diese Begleitung der letzten Stunden des Tages zu freuen: Der Literatin Anna Fodorová zu lauschen, die über das Altern ihrer Mutter, der Autorin Lenka Reinerová, schreibt. Ein Sturz über eine Teppichkante bei einem Besuch in Fodorvás Heim in London ist der Ausgangspunkt dieser Erzählung. Ein Sturz, der für die über 90-jährige Mutter nicht folgenlos bleibt und der verhindern wird, dass sie ihre Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Gedenktag an die Opfer des Holocaust am 27. Jänner persönlich halten wird können. Jahre zuvor hatten Mutter und Tochter diesen Jahrestag bereits einmal ganz anders als in Prag oder London erlebt – und zwar in Jerusalem. Eine Sirene heulte, vor dem Hotel kam jede Bewegung zum Stillstand: »Die Autos hatten angehalten, Fahrer und Fahrgäste waren ausgestiegen und schweigend neben ihnen erstarrt, Tennisspieler in ihren Bewegungen auf dem Tennisplatz, die Passanten auf der Fahrbahn wie eingefroren. Als wäre das Bild im Film stehen geblieben. […] Die Ampeln unter uns blinkten grün, aber nichts rührte sich, nur das lang gezogene Heulen der Sirenen ging unausgesetzt weiter.« (S. 154)

Was die Tochter, eine aus der zweiten Generation der Holocaust-Überlebenden daran so berührt, ist die Erfahrung, dass den wortlosen Schmerz plötzlich ein ganzes Land visuell erkennbar teilt, denn darüber werde kaum je gesprochen, wie sich dieser in Folge der Traumata der Eltern-Generation in derjenigen ihrer Nachkommen fortsetzt, im abwehrenden Nicht-Dialog, im Fehlen von Familiengeschichten und Gräbern, in familiären Tabus, an die nicht gerührt werden darf: »Euch ist nichts passiert. Dieser einfache Satz [meiner Mutter] barg eine ganze Palette unzulässiger Gefühle: Wut, Vorwurf, Ratlosigkeit, Scham, Schuld. In der Hierarchie der Trauer steht meine Generation erst irgendwo in hinterer Reihe; uns ist nichts passiert, unseren Eltern hingegen alles. Also beinahe alles. Diejenigen, denen wirklich alles passiert war, haben das nicht überlebt, und wir werden nie erfahren, wie es war. Nur sitzt dieses federleichte Nichts meiner Generation wie eine schwere Last im Nacken.« (S. 155)

Ebenso wie solch langjährige Konflikte, all das Schwelende, nie Ausgesprochene, welches sich im Laufe einer miteinander verbrachten Lebenszeit aufbaut, sind alltägliche Begegnungen mit all ihren Komödien und Dramen Themen in dieser Erzählung. Das Betreuen der nicht mehr mobilen Mutter, die darauf besteht, in ihr Prag zurückzukehren, wo sie sich sprachlich zu Hause fühlt, wo ihre Freund*innen leben, wird von London aus zur logistischen und emotionalen Herausforderung. Es ist Anna Fodorovás erwachsene Tochter, welche sie versprechen lässt, sie werde deswegen keinesfalls nach Prag ziehen. Als die Mutter zögert, malt die Tochter ihr die Schreckensvision eines Zukunftsbilds: »Ich werde aus der Hochschule entlassen, meine Patienten werden mich sitzen lassen, meine Ehe wird in die Brüche gehen, ich werde am Hungertuch nagen, psychisch zusammenbrechen. Ich sehe, dass die Angst aus ihr spricht, und versichere ihr deshalb sofort, dass ich ihr solche Sorgen nicht aufbürden würde. Ich kann mir jedoch nicht verkneifen, nur ganz nebenbei hinzuzufügen, wie ich mich schon darauf freue, einmal alt zu sein. Meine Tochter erwidert, dass ich mir zumindest sicher sein könne, dass sie das dann mit Verstand angehen werde (ach, diese Jugend!).« (S. 148)

Es sind Szenen wie diese, deretwegen einen die Lektüre dieses Abschieds berührt, sie einen auch mal zum Schmunzeln bringt – und das Wissen, dass uns allen, die wir verstreut über Landstriche oder Länder leben, dieser familiäre Balanceakt früher oder später ereilen wird. 

Am eindringlichsten aber ist mir eine kleine Szene geblieben, weil ich sie aus eigenem Erleben so gut kenne: Lenka Reinerová wollte vor dem Einschlafen auf keinen Fall mit Nachrichten oder Politik konfrontiert werden. Neben ihrem Bett lag ein Buch mit jüdischen Witzen, und es war eines der Rituale der beiden Frauen, diese vor dem Einschlafen zu lesen, zu lachen, zu lesen, zu lachen.

Nun ist die Lektüre beendet, und ich frage mich, was mich während der nächsten Nächte begleiten und manchmal zum Lächeln verleiten wird – vielleicht sollte ich die Frau fragen, die so genau wusste, was mir gefallen würde …? Ihnen aber empfehle ich für Ihren nächsten Prag-Besuch die antiquarische Suche nach dem »Traumcafé einer Pragerin« von Lenka Reinerová; aber Sie können (und sollten) es natürlich auch in Wien, Hamburg und München, in Salzburg oder wo-auch-immer zur Hand nehmen, mit oder ohne Kaffeehäuser, unwichtig, wesentlich nur eines: Lesen Sie es!

(Und teilen wir dem Aufbau Verlag mit, dass es ein Irrsinn und eine Zumutung ist, Weltliteratur spätestens nach drei Jahren aus dem Programm zu nehmen.)

 

Quelle:

Fodorová Anna: Lenka Reinerová. Abschied von meiner Mutter. (Originialtitel: Lenka) Mit einem Nachwort von Jaroslav Rudiš. Aus dem Tschechischen von Christina Frankenberg. München: btb 2022.