Ilse Tielschs »Heimatsuchen«. Oder: Wie über Vergangenheit schreiben

Ich wüsste nicht zu sagen, weshalb mir Ilse Tielschs Romane bis zum Ende des vergangenen Jahres entgangen waren. Als einer sich im Lesezirkel, den ich leite, wünschte, wir möchten doch »Heimatsuchen« auf die Lektüreliste setzen, bedurfte es also nicht des Arguments, dieser Roman spiele doch in der Region, in der ich lebe, um seine Anregung umzusetzen; wiewohl ein wenig halbherzig und durchaus besorgt – ich gebe es zu. Schließlich lag das Werk an jenem Abend nicht auf dem Tisch, um sich durch die Seiten zu blättern, und auch den Dokumentarfilm »Heil Hitler Die Russen kommen« (2012) hatte ich als durchaus zwiespältig in Erinnerung, nutzte er doch den Kamerablickwinkel, um die Meinung der Zuseher*innen dezent aber dennoch zu beeinflussen – ja, vielleicht könnte man es durchaus manipulieren nennen … Das Thema der Grenze und ihrer Überschreitungen, die Verbundenheit vor und der Abbruch aller Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg gleicht bis heute einem Minenfeld, insbesondere im österreichischen Weinviertel.

Doch spätestens wenn eine Literatin verstirbt, deren Name einem bekannt ist, ohne dass man jedoch jemals nach einer ihrer Arbeiten gegriffen hatte, sollte man sich – wenigstens nach ihrem Tod – mit ihrem Werk konfrontieren, nicht wahr? – Und ich …

Ich begann meine Lektüre; zufällig am Tag bevor Ilse Tielsch am 21. Februar dieses Jahres verstarb, was zumindest den Anfang meiner Lektüre beeinflusst haben mag.

 

So skeptisch ich war, insbesondere befürchteter Parteilichkeit wegen, die einem im Weinviertel nach wie vor und oft genug begegnet, so interessiert las ich Seite um Seite, tauchte in Tielschs umfassendes Bild der ersten Jahre nach dem 2. Weltkrieg ein, das einerseits eine (mir sehr vertraute) Region fokussiert – von Linz samt nördlich liegendem Mühlviertel, Wien und nördlich liegendem Weinviertel – und dabei auch auf diese Sprach-Regionen gekonnt eingeht, das andererseits aber auch diese ganz bewusst in ein globales Feld einbettet:

 

Dass sie Zeitungsmeldungen, Nachrichten aus dem Rundfunk mit ihrem Erzählen verwebt, dass Tielsch – ein wenig zum Ärgernis ihres Erstlesers, wie sie einräumt – auf Alltagsgeschichte eingeht, wenn sie die Kosten für Lebensmittel dokumentiert, Rezepte der Not einbaut oder die Frage eines Kindes, ob es den Weihnachtsmann gibt, all das trägt zum umfassenden Bild jener Zeit bei, das sich nach und nach während der Lektüre in einem etabliert.

Apropos erwähntem Weihnachtsmann: 1897 lautete die Antwort der New Yorker Zeitung »Sun« auf jene Frage: »Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Er ist da, wie die Liebe da ist, die Großmut, die Andacht, und du weisst, dass all dies im Überfluss vorhanden ist, dass diese Dinge es sind, die deinem Leben Schönheit und Freude geben. […] In der ganzen Welt ist nichts anderer wirklicher und nichts anderes sicherer.« (S. 133f) Als der Wiener »Kurier« diesen Artikel jedoch 1945 abdruckte, veränderte sich auch die implizite Bedeutung der Wörter aufgrund der Verhältnisse, in der viele zu leben hatten, der Erfahrungen, die hinter ihnen lagen.

Gleich einem roten Faden zieht sich Tielschs Nachdenken über alte und neue Heimaten durch das Werk, und Heimat wird im Laufe dieses Nachspürens keineswegs als Herkunftsort definiert, sondern hinsichtlich des rechtlichen Status, der einem an jenem Ort zukommt:

»HEIMAT, ein Ort, an den man sich nicht nur vom Gefühl her gebunden fühlt, an dem man Rechte genießt, also auch eine rechtliche Situation. Eingebunden sein in eine Gemeinschaft, von ihr angenommen, als Mitmensch akzeptiert sein. HEIMAT, ein Ort, den man verlassen kann, im Bewußtsein der möglichen Rückkehr, HEIMKEHR, mit welcher das Recht, nach längerer oder sehr langer Abwesenheit wieder ansässig zu werden, selbstverständlich verbunden ist. HEIMAT schließlich ein Ort, die Umgebung dieses Ortes, den zu gestalten man durch Idee und Arbeit mit geholfen hat, in dem man sich, durch gemeinsame Arbeit mit anderen, ein HEIMATRECHT erworben hat, für den man Mitverantwortung trägt«, schreibt Ilse Tielsch.

Und auch wenn die schreienden Blockbuchstaben von Anfang an nerven oder man Tielschs Heimat-Deklinationen als überzeugte Europäerin ein  ergänzendes »Ja, und außerdem« hinzufügen möchte, weil man einen Ort nicht mehr als abgegrenzten Raum sieht, sondern ihn eingebunden weiß in ein größeres Miteinander, in dem die Orte aufeinander Einfluss nehmen, und selbst wenn einem der Aspekt, dass Heimat ein Ort ist, den man durch Idee und Arbeit mitgestaltet, sodass man für ihn eben auch Mitverantwortung trägt, an erste Stelle zu gehören scheint, als Prämisse, sodass sich aufgrund dieser logischerweise das Recht ergibt, das politische Leben ebenda auch als gleichwertige Mitbürger*innen mitzugestalten, was nach wie vor eine Utopie ist – bei all diesen Hinzufügungen, gilt es zu bedenken, dass dieser Roman bereits 1982 erstveröffentlicht wurde und er mehrheitlich die Jahre 1945-48 porträtiert, eine Zeit, in der jener verheerende Krieg zwar ›vorbei‹ war, nicht aber die Denke, die er hinterließ oder die Grausamkeiten der Menschen. Diese enden nicht durch einige Unterschriften unter Verträgen, sondern es bedarf der konstanten Arbeit, die das Bewusstsein für ein Miteinander an die Stelle von ›wir vs. die-da‹ mahnt.

 

Ob wir oder andere nach uns je eine Zeit erleben werden, in der der Mensch nicht mehr des Menschen Feind?

 

Selbst wenn Tielsch nur am Rand die vor 1945 begangenen Gräuel, die herablassende Haltung der Deutschsprachigen während der Monarchie in Böhmen und Mähren, das Besetzen und nachherige Wüten der Nazis thematisiert, allesamt Erfahrungen, die neben dem nach 1945 oft zynisch zitierten Nazi-Slogan »Heim ins Reich« ja durchaus eine motivierende Rolle bei nachfolgenden Vertreibungen spielten, so macht Tielsch dennoch ganz deutlich Schuld – und Unschuld! – auf allen Seiten fest: Wichtiger als die kniffelige Frage, wer sich – und in welchem Ausmaß – wodurch schuldig gemacht habe, dünkt ihr nämlich der Schluss, dass es Allerorts und Allerkulturen empathiefähige, unterstützende, ehrliche und rückgratsbewusste Menschen gibt.

Und andere.

Doch lohne es sich im Leben, auch um nicht eigene (Überlebens-)Kraft zu minimieren, bewusst auf die Ersteren zu blicken. Alles andere nähre bloß Hass und Intoleranz, was unweigerlich zu weiterem Elend führe, weil es die eigene Seele vergifte.

 

Wer Ilse Tielschs Arbeiten noch nicht kennt, dem sei die Lektüre empfohlen. Nicht nur von »Heimatsuchen«, auch Lyrik gibt es zu entdecken und »Von der Freiheit schreiben zu dürfen«: »Wer, nach oft jahrelanger Arbeit, ein umfangreiches Manuskript beendet hat, ist nicht mehr, der er war, als er mit der Arbeit daran begann. Er hat sich selbst in seine Arbeit eingebracht und sie hat ihn verändert« (S. 27), heißt es darin – Gleiches gilt auch für die(se) Lektüre!

 

Ilse Tielsch

1929 in Auspitz/Hustopece in Mähren geboren, 2023 in Wien gestorben. Studium der Zeitungswissenschaft und Germanistik, 1953 Promotion. Veröffentlichte Lyrik sowie Romane, darunter die autobiografische Romantrilogie »Die Ahnenpyramide«, »Heimatsuchen« und »Die Früchte der Tränen«. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Viele Preise und Auszeichnungen, u.  a. Anton-Wildgans-Preis, Andreas-Gryphius-Preis, Südmährischer Kulturpreis. 2017 erhielt sie den Franz-Theodor-Csokor-Preis für ihr Lebenswerk. Ihr dreiteiliger Familienroman ist in der »Edition Atelier« erhältlich. 

(Vgl.: https://www.editionatelier.at/beteiligte/ilse-tielsch/