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Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden! Oder: Versuch über das Mitteilen und Zuhören.

Seit 1991 stehen sie in meinem Bücherregal, die ungehaltenen Reden ungehaltener Frau, die Christine Brückner damals unter dem Titel »Wenn du geredet hättest, Desdemona« verfasste. In ihnen ergreift sie für so unterschiedliche Frauen das Wort wie Goethes ›dickere Hälfte‹ oder Katherina Luther, aber auch die fiktive Effi Briest oder Maria, die sich fragt, wo sie ihre Sprache verloren hat, kommen darin zu Wort.

Manchmal, wenn ich an jenem Buchregal vorbeigehe, das neben Werken zur bildenden Kunst und Musik auch meine Sammlung an Essays beherbergt, und mein Blick über die Buchrücken streift, bleibt er an Desdemona hängen: Wenn du geredet hättest.

 

Wenn man dich in aller Ruhe deine Gedanken hätte entwickeln lassen und dich nicht unterbrochen hätte, wenn man dir endlich einmal zugehört hätte, wenn …

 

Ja, wir alle wissen nur zu gut, dass es mit Reden allein nicht getan ist. Es braucht das aktive Zuhören, damit das Wort nicht in den Wind gesprochen sei, es braucht die Augen des Lesenden, um die schriftliche Rede aufzunehmen. Dass im »Sag jetzt nichts«-Garten 24 Frauen stehen, denen man wahlweise zuhören kann, mag mancher Leserin und manchem Leser die Begegnungen erleichtern. Für andere ist gerade die Sammlung relevant, denn »[…] das Nebeneinander hilft zu verstehen. Wenn all diese Frauen reden und zuhören, wenn wir einander zuhören und miteinander reden, knüpft sich ein starkes Gewebe aus Worten, Erfahrungen und Verständnis.« (S. 10)

So heißt es im Vorwort zur neuen Publikation »Sag jetzt nichts, lass mich erst zu Ende reden!«, die soeben im S. Fischer Verlag mit 24 wütenden Reden erschienen ist. Anlass war der 100. Geburtstag von Christine Brückner 2021, der mit einer Ausschreibung gefeiert wurde: Man bat um ungehaltene Reden ungehaltener Frauen (www.ungehalten.net).

Im folgenden Jahr wählte die zum S. Fischer Verlag gehörende Literaturzeitschrift »Neue Rundschau« einige dieser Reden zur Publikation aus: »Was als ungehaltenes Frauenbuch gedacht war, entpuppte sich als feministischer Tiefpunkt. Das Buch begann zwar mit ungehaltenen Reden, im zweiten Teil befanden sich aber ausschließlich männliche Texte. Ein Missverständnis, einzig dadurch gerettet, dass das eigene Scheitern in einem ungehaltenen Vorvorwort offengelegt wurde.« (S. 11)

 

Grund genug, 2022 eine weitere Ausschreibung anzusetzen  …

 

…um danach aus den eingereichten Reden diese 24 ungehaltene Frauen auszuwählen, die nun im neuen Sammelband das Wort ergreifen. Nicht alle sind Literatinnen, manchen sind primär Bloggerinnen, freie Rednerinnen oder Performance-Künstlerinnen; andere kommen aus der Naturwissenschaft, arbeite(te)n in Schulen, in der Frauenforschung, im Journalismus, und viele von ihnen engagieren sich auch politisch, sind feministisch vernetzt. Nur bedingt werden literarische Formen der Rede genutzt, um durch die gewählte Struktur den Inhalt zu stützen. Literarische Qualität, Sprache und Strukturelemente, rücken eher in den Hintergrund und der Inhalt ihrer Wut dominiert die Form oftmals. Die Beweggründe ihres Wütens sind so unterschiedlich wie auch ›die‹ Frauen verschieden sind: Von der Süße des Alters und der Bitternis des Übersehen-Werdens ist die Rede, vom lateinischen Wort ›Avia‹, das zugleich ›Großmutter‹ und ›abgelegener Ort, Einöde‹ bedeutet, vom psychischen Druck, der auf jungen Menschen lastet, und von jenem, der mit der Care-Arbeit für die Eltern verbunden ist. Thema wird die Mutterschaft in ihrer ganzen Bandbreite von Mutterwerden und -sein bis hin zum Erleben, dass von der Mutter nur noch eine Ahnung über ist. Laut wird die Wut über Gleichgültig- und Scheinheiligkeiten, über Burn-out und das Leben mit seinen Herausforderungen …

 

»Jede Frau, die zu reden beginnt, lädt dazu ein, ihr zu folgen. Das Schweigen wird beendet. Und bei aller Wut beginnt hier ein Leuchten.« (S. 11)

 

Auch weil sich in die Winkel der Wut manchmal ein Auflachen mengt, ein bitteres vielleicht, ein grimassierendes Lachen des Wiedererkennens – wie z. B. in der Rede Bettina Pilis über den Versuch, die Erwartungen aller stets zu erfüllen, selbst die eigenen: »[…] und dann haben wir es doch schön – wenn dann bitte das schlechte Gewissen auch mal nach Hause ginge, aber das sitzt ungemütlich weiter mit am Tisch – unfassbar wie aufdringlich« (S. 44) heißt es darin über die Protagonistin, die sich ›erdreistet‹, obgleich die To-do-Liste noch ellenlang, Platz zu nehmen und ein Glas Rotwein zu trinken, Beine hoch, Seite an Seite mit ihrem Partner.

Zu vielen dieser Reden würde das Wort Sara Ehsans von der »Wunde, die ich bin« (S. 96) stimmig dünken, denn es sind Verletzungen, die hier zur Sprache kommen, entstanden aus Gedankenlosigkeit, aus Traditionen und Machtstreben, aus Gleichgültigkeit und oft auch aus den divergierenden und miteinander unvereinbaren Forderungen an ein Frausein, die wir alle nur zu gut kennen. Sofie Morin, die sich im Gegensatz zu anderen Rednerinnen für ihre ungehaltene Rede einen poetischen Duktus wählte, der gut zu den »geschwungene[n] Linien, welche meine weibliche Biographie in den Raum zeichnet« (S. 36) passt, bringt die Unvereinbarkeit der an uns gestellten Forderungen auf den Punkt, wenn sie schreibt:

»Meine Mütter waren zwei, und ich hatte keine Ahnung, dass ihre Ansprüche an mich, nicht das Maß aller Dinge waren. Die eine wollte mich dünn – weil einem Mädchen etwas anderes nicht zu Gesicht steht –, die andere wollte mich unabhängig und selbstbewusst – aber nur Männern gegenüber, weil ein Mädchen sich auf nichts von Männergnaden verlassen darf, so die Oma.« (S. 35)

Ich blättere mich zurück in das Vorwort: »Wenn all diese Frauen reden und zuhören, wenn wir einander zuhören und miteinander reden, knüpft sich ein starkes Gewebe aus Worten, Erfahrungen und Verständnis.« (S. 10)

Ich denke an die ungehaltene Rede von Bettina Pilis, die mir während des Lesens die Tränen in die Augen trieb – wohl weil ich diese Melange aus Überforderung und Erschöpfung nur zu gut kenne, die in der von Kindheitsbeinen an inhalierten Grundbedingung für Anerkennung den besten Nährboden findet, um in ihrer Variante der Verlässlichkeit-um-jeden-Preis wie das ärgste Unkraut zu wuchern, sodass ihr ebenso schwer beizukommen ist wie Schöll- und Fünffingerkraut. Beide werden, lässt man sie ungehindert wuchern, zum Problem, da sie anderen Pflanzen den Lebensatem nehmen; und dennoch sind beide auch Heilkräuter, ergänzt die Gärtnerin in mir.

Erwartungen – reale oder vermeintliche – nicht mehr unreflektiert zu erfüllen, das zieht sich als (mein) roter Faden durch diese Reden; für andere Leser*innen und ihre Lebenshintergründe mag es ein anderes Thema sein. Sich mit dem Inhalt dieser Reden auseinanderzusetzen, den 24 Frauen, die hier sprechen, zuzuhören, sich vielleicht sogar mit anderen darüber auszutauschen, das könnte nicht bloß für einen persönlich lohnenswert sein, sondern womöglich auch zu Begegnungen oder zu weiteren gehaltenen ungehaltenen Reden führen. Und sollte dem Zuhören auch eine Zeit der Reflexion eingeräumt werden, bevor das nächste (Ant)Wort ergriffen wird, könnte sich womöglich wirklich etwas verändern …

 

Wenigstens in uns, die sich damit konfrontiert haben. 

 

Ich blättere mich nochmals zurück – in Christine Brückners ungehaltene Reden, die ich einst von meiner älteren Schwester zum Geburtstag bekam und die mich seit dreißig Jahren begleiteten, mir Mut machten, meinem eigenen Empfinden, meinen Gedanken, meinen Sichtweisen zu trauen, selbst wenn sie nicht mit vermeintlichen Normen korrespondierten. Ich denke auch an die besonders starke neue Rede »L CH SEIN« von Ruta Dreyer über die vermeintliche Verfügbarkeit weiblicher Körper, an die verstörende Rede »Waffen und Worte« von Oleksandra Yakovlyeva, die mich zum Wider- und Einspruch reizt – »nein, sag jetzt noch nichts!«, eile ich mir voraus, greife nach dem Geschenkpapier im Korb. »Ich lasse dich zuerst lesen und du mich alsdann zu Ende reden!«, und ich hülle das Buch in grünes Papier ein: Möge es meine Töchter begleiten, wie Desdemona einst mir Begleitung und Mut anbot, um unhaltbare Situationen mit ungehaltener Rede zu beantworten. Und vielleicht kommen wir darüber ja auch in einen Dialog, wer weiß?

 

 

Quelle:

Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden! Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2023. ISBN: 978-3-10-397524-6