Es hat Seltenheitswert in der Literaturgeschichte, dass ein (Ehe)Partner einen Roman verfasst, auf den der andere aus Ärger über erfolgte Darstellung antwortet. Dabei gab es immer schon schreibende Paare, auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von dem hier die Rede sein wird. Eine absolute Ausnahme ist auf jeden Fall Wanda von Sacher-Masoch (bzw. im Pseudonym: von Dunachew). Sie schrieb gleich drei Gegendarstellungen zu den Werken ihres Mannes, und zwar »Echter Hermelin. Geschichten aus der vornehmen Welt« und »Die Damen im Pelz« (teilweise auch: »Die Beichte der Dame im Pelz«) sowie »Der Roman einer tugendhaften Frau. Ein Gegenstück zur ›geschiedenen Frau‹ von Sacher-Masoch«, wobei hinzugefügt sei, dass sein Werk den Untertitel »Passionsgeschichte eines Idealisten« trägt.
Auch Sinaida Hippius und Dmitri Mereschkowski waren ein schreibendes Paar jener Zeit, eine Beziehung, die offen gelebt wurde, da beide (verbotene) homosexuelle Sinnlichkeit vorzogen. Im Gegensatz zu obig genannten Gegenpositionierungen zogen sie es vor, ein Werk gemeinsam zu verfassen: »Das Reich des Antichrist. Russland und der Bolschewismus« (München 1921).
Johanne Luise Heiberg, geborene Pätges, die als Balletttänzerin debütierte, als Schauspielerin begeisterte, später folgte sie ihrem Mann als Direktorin des »Königlichen Theaters« in Kopenhagen, verfasste auch kleinere Schriften – vor allem in den 1840er-Jahren – sowie 1891/92 ihre viel beachteten Memoiren »Et liv gjemoplevet i erindringen« (Ein erinnertes, wieder gelebtes Leben). Über die Beziehung zu ihrem Mann, dem Autor und Theaterdirektor Heiberg, kursierte stets das Gerücht, der Ehemann wäre im Grunde genommen der Vater – ein Getuschel, das den zeitgenössischen schwedischen Autor Per Olov Enquist zu »Aus dem Leben der Regenwürmer« inspirierte.
Ein Mord aus Eifersucht, für den die Gesellschaft verantwortlich ist, oder doch ein Femizid.
Das Erzählungs-›Paar‹ »Kreutzersonate« (Tolstoi) und »Eine Frage der Schuld« (Tolstaja) nimmt dennoch eine Sonderstellung ein, da Tolstajas Kontra zu Tolstois Frauenmord erst 100 Jahre nach der Niederschrift dieses Romans veröffentlicht werden durfte.
Beginnen wir bei Tolstois Novelle: Fürst Posdnyschow, bereits in jungen Jahren von anderen Männern in Bordelle mitgenommen, beschließt zu heiraten. Er ehelicht ein junges Mädchen, das dazu erzogen wurde, zu gefallen, die Sehnsüchte eines Ehemannes zu erfüllen und keine eigenen zu kennen. Schon während der Hochzeitsreise kommt es zu ersten Differenzen, denn seine Sexualität erschreckt seine Frau, ein Dialog darüber ist ihr unmöglich. Sie gebiert ihm Kind um Kind, geht völlig in der Erziehungsaufgabe auf und ist zu seinem Ärger nicht mehr für ihn verfügbar, wann immer er will.
Als die Kinder einmal nicht krank oder besonderer Fürsorge bedürfen und ein Musiker, Jugendfreund des Fürsten, zufällig bei ihnen hereinschneit, musizieren die beiden gemeinsam, und die junge Fürstin erlebt dabei so etwas wie das lang vermisste Glück. Der Freund kehrt wieder, der Ehemann wird blind vor Eifersucht, rast und erdolcht seine Frau, der er eine Liebschaft mit dem Musiker unterstellt, obgleich es dafür keinen Beweis gibt. Erst als sie lebensgefährlich verletzt vor ihm liegt, kommt er zur Besinnung, ergeht sich in Selbsthass und findet es durchaus legitim, dass die Kinder, mit denen er ohnedies nie etwas anzufangen wusste und die seine Lust bloß störten, bei der Schwester seiner Frau aufwachsen. All dies erzählt der Fürst nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft während einer nächtlichen Zugfahrt einem zufällig anwesenden Mitreisenden, da das Gespräch im Abteil auf die Freuden der Liebe und der Ehe kam: Solches Gerede könne er nur zynisch betrachten, gegenseitige Liebe existiere nicht, es könne ja auch keine Kerze ein ganzes Leben lang brennen (K, S. 26). Ob er in Abrede stellen wolle, dass es geistige Verwandtschaft und gemeinsame Ideale gäbe? Nein, die seien gut und schön, aber deswegen brauche man sich nicht »[…] miteinander schlafen legen […]« (K, S. 26). Ursache allen Übels sei nämlich die männliche Sexualität, deren Ausübung den Ärzten von früher Jugend als gesund gelte, weswegen man junge, noch nicht heiratsfähige Männer dazu anhalte, Bordelle zu besuchen oder sich Mätressen halten, denn schon allein der Akt der Bezahlung löse einen von jeder moralischen Verpflichtung für diese Frauen (Vgl.: K, S. 33–37). Dieses Gebaren mit väterlichem und medizinischem Segen zerstöre jedoch jegliche »natürliche, einfache Beziehung« (K, S. 36) zu Frauen für alle Zeiten:
»Ich war das geworden, was man einen Wüstling nennt. Und ein Wüstling zu sein ist ein physischer Zustand, ähnlich dem Zustand eines Morphinisten, eines Säufers, eines Rauchers […]« (K, S. 36), denn dieser benutze Frauen zu seiner Befriedigung: »[…] ein Werkzeug des Genusses. Ihr Körper ist ein Genussmittel. Und sie weiß das. Es ist die reinste Sklaverei.« (K, S. 71). Denn »[m]an verkauft einem Wüstling ein unschuldiges Mädchen und arrangiert diesen Verkauf unter gewissen Formalitäten […]« (K, S. 53), sie werden an Männer verschachert, die durchaus auch doppelt so alt sein können, und wundere sich dann, dass diese soeben geehelichten Mädchen in der Hochzeitsnacht in Panik und Abscheu davonlaufen.
Und die Mütter schauen nicht bloß zu, nein, sie perfektionieren dieses Treiben, indem sie ihre Töchter dazu erziehen, Junggesellen zur Ehe »ein[zu]fangen«, alle Mode sei darauf ausgerichtet, alle Mädchenerziehung mit »[…] diese[n] Jerseys und Locken und Cul de Paris […]« (K, S. 44), wie sollten da nicht »[…] wie Gurken im Mistbeet […] verliebte junge Leute aufschießen […]« (K, S. 44). Darüber müsse sich eine Gesellschaft Gedanken machen, dass die Frau bloß noch ein Instrument zur Triebbefriedigung des Mannes sei, der darauf bestehe zu vögeln, selbst wenn sie schwanger ist oder stillt, was kein Tier je täte (Vgl.: K, S. 67) und nicht über Freiheiten oder Rechte der Frauen:
»Und da schwatzen sie von der Freiheit, von den Rechten der Frau. Das ist dasselbe, wie wenn Menschenfresser gefangene Menschen zum Verschmausen mästen und dabei beteuern wollten, sie seien um deren Rechte und Freiheit besorgt.« (K, S. 68)
Und wehe der Frau, die sich entziehen will, wehe der Frau, der die Ärzte sagen, nach fünf Kindern sei jede weitere Schwangerschaft eine Gefährdung ihres Lebens, wehe der Frau, die dem Mann nicht mehr zur Verfügung steht, der – so denkt der Mörder – ist alles zuzutrauen, auf jeden Fall ein Seitensprung.
Das sind doch durchaus erstaunliche Aussagen, nicht bloß einer Figur, sondern offenbar geben sie auch Tolstois Sichtweise wieder, glaubt man dem Nachwort des Autors, das eher den Charakter eines Manifests hat. Was ist aus dem Literaten geworden, der ein Jahrzehnt zuvor mit »Anna Karenina« eine Figur schuf, die sich traut, die gleichen Rechte einzufordern, die Männern gewährt werden, und die an der Gesellschaft scheitert?
Und bei Tolstaja? Ein inhaltlicher Vergleich
Sofja Tolstaja erzählt die gleiche Geschichte und dennoch eine andere: Die Rahmenhandlung der Zugfahrt streicht sie, denn es bedarf keiner Beichte und niemand wird von einer Verfehlung freigesprochen.
Identisch bleibt aber, dass sich Fürst Prosorski, ewiger Junggeselle, plötzlich in die kaum erwachsen gewordene Tochter seiner Kindheitsfreundin verguckt und seine angebliche Zuneigung durchaus obsessive Züge annimmt:
»[…] ich muß, ja ich kann nicht anders, als von diesem Kind Besitz zu ergreifen […]« (F, S. 16), schreibt Tolstaja in aller Deutlichkeit in einer der wenigen Passagen, die nicht aus Sicht der jungen Anna, sondern aus der Perspektive ihres späteren Mannes erzählt wird. Im Gegensatz zu Tolstois Mädchenbild kennt Tolstajas Anna durchaus ihre Sehnsüchte, ihre Lebenswünsche: Sie will ein geistiges Leben, will lernen, sich bilden. Für ihre Umgebung ist das nicht bloß sekundär, sondern insbesondere für die Männer gänzlich unverständlich. Der junge Student, der mit ihr seine Lektüre teilte und diskutierte, möchte sie in Wahrheit einzig küssen und ist nur einige Wochen lang zu feige dazu. Als er es dennoch riskiert und sie entschieden abwehrt, entzieht er ihr auch seine Bücher und den Dialog darüber. Und der Freund der Mutter, Fürst Prosorski, ist sowieso der Meinung, sie brauche keine Philosophen zu lesen, das verwirre nur ihren Geist, ihr Instinkt sei besser dran ohne jede Bildung. Im Gegensatz zur Leser*in sieht Anna darin Fürsorge und gibt seinem Drängen – durchaus verliebt – nach.
Auch in diese Ehe gehen beide mit sehr ungleichen Vorstellungen: Er will besitzen, sie will Gedankenaustausch, möchte ihn unterstützen bei seinen großen, edlen Taten (Vgl.: F, S. 44). Spätestens an dieser Stelle ahnt man das Fiasko: Einer, der ihre Lektüre für unsinnig hält, wird nie Gedankenaustausch pflegen; einer, der bislang keine ›große, edle Tat‹ vollbracht hat, wird auch in Zukunft keine vollbringen; und der mütterliche Rat für diese Ehe macht das Maß voll: Fügsam« solle sie sein, sich über nichts wundern (Vgl.: F, S. 54).
Das erste Zerwürfnis entsteht aber nicht aus der Diskrepanz ihrer Erwartungen an ein gemeinsames Leben, sondern als Anna begreift, dass der Mann, den sie für edel und gut hielt, schon unzählige Frauen vor ihr ›geliebt‹ – oder zumindest begehrt – hat, eine davon lebt sogar noch immer als Magd am Landgut. Kaum ist Anna zum ersten Mal schwanger, wird ihm an ihrer Seite langweilig (F, S. 76), kaum ist das Kind geboren, verlangt es – oh Wunder! – nach ihrer Aufmerksamkeit, ihrer Fürsorge. Vor allem aber: Sie putzt sich auch nicht mehr dazu heraus, um ins Kinderzimmer zu eilen oder um in Abendrobe am Bett eines fiebernden Kindes Wache zu halten (Vgl.: F, S. 89), ihm absolut unverständlich, und er »verlangt« daher »die Erwiderung seiner Gefühle«, bis sie sich »lautlos weinend« »[…] seinem Willen unterwarf, aus Furcht, die Liebe [!] des Mannes zu verlieren, dem sie ihr Leben anvertraut hatte.« (F, S. 90). – Ein relativ bekanntes Szenario aus der Literatur, so möchte man hinzufügen, denn solange es eine Trennung der Lebensräume nach Geschlechtern gab, dominierte dieser Konflikt wohl häufig junge Beziehungen.
Im Gegensatz zu Tolstois Darstellung kennen bei Tolstaja beide Ehepartner*innen die Eifersucht, aber während des Fürsten Eifersucht unverändert auf sein Besitzrecht pocht, wird die Frau sich in ihrer Eifersucht selbstzerstörerisch: Sie bewirkt, dass Anna nicht mehr sie selbst ist, sondern strategisch zu denken beginnt: Um ihren Mann nicht an eine andere Frau zu verlieren, zieht sie mit ihm in die Stadt, obgleich ihr selbst das Landleben mehr behagt, um ihn nicht zu verlieren, weil er sich langweilt, veranstaltet sie Party um Party, schlägt sich mit ihm die Nächte um die Ohren, obgleich sie lieber schlafen würde.
Die Frau, die ein Tendre hat
Seine Eifersucht – hier ist es die Kunst der Malerei und ein Maler – entwickelt sich bei Tolstaja etwas weniger grundlos als bei Tolstoi, denn der Jugendfreund, der nun ins Eheleben purzelt, ein gewisser Dmitri Bechmetew, ist zu all dem in der Lage, worin der Fürst versagt: Dmitri kann zuhören, er interessiert sich für die Gedanken Annas, er nimmt am Familienleben Anteil und beschäftigt sich mit den Kindern, spielt mit ihnen, liest ihnen vor, unterrichtet sie nebenbei. Wiederholt überrascht Dmitri Anna mit kleinen Gefälligkeiten, die nichts anderes sein wollen oder sind als ein Zeichen dafür, dass er sie wahrnimmt: als Mensch, als Individuum.
Sie öffnet sich ihm, da er zu all dem in der Lage ist, wonach Anna sich von Jugend an sehnte und was der Fürst ihr nicht geben konnte:
»Sie war einem Menschen seelisch nahegekommen, der es vermocht hatte, statt Gewalt anzuwenden, statt Forderungen zu stellen oder Ansprüche zu erheben, ihr Leben mit dem Licht der Liebe zu erhellen, und als ihr geistiges Leben Erfüllung fand, war in ihr das Gefühl des Glücks auch durch die physische Nähe dieses Menschen erwacht. Warum war dieser Mensch nicht ihr Mann? Ein solches Ideal hatte ihr vorgeschwebt, als sie heiratete. Wie hatte sie in der ersten Zeit ihren Mann idealisiert, wie lange sich blind seinem Einfluß unterworfen und dabei nur dunkel gefühlt, ohne es sich einzugestehen, daß all das für sie nicht das Rechte war; daß ihr seine Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Innenleben und ihren Kindern weh tat; wie erniedrigend es für sie war, daß sein Interesse allein ihrer erblühenden Schönheit, ihrer Gesundheit und ihrem äußeren Erfolg galt, der ihn freute und zugleich jene triebhafte Eifersucht in ihm weckte, unter der sie so schrecklich leiden mußte.« (F, S. 172–173) Diese Eifersucht steigert sich alsbald zur Raserei, in der er Anna ermordet.
Rezeption: Tolstoi, der Frauenfeind?
Tolstois »Kreutzersonate« wird gern als frauenfeindliche Darstellung interpretiert, Tolstajas Antwort als eine entschiedene Absage auf seine Positionierung. Ich denke, dass diese vereinfachte Interpretation manch Relevantes aus dem Blick verliert.
Tolstois scharfe Kritik daran, dass junge Männer damit aufwachsen, sie hätten ein Recht auf Sex, die Frau sei ihr Besitz und wer Geld dafür zahle, sei es im Bordell oder sei es für den Eheunterhalt, habe alle Rechte, den eigenen Genuss bedenkenlos einzufordern und falls nötig auch mit Gewalt zu erzwingen, kann man wohl kaum ›frauenfeindlich‹ nennen. Sehr wohl jedoch, dass weder Tolstois Figur noch der Autor in seinem Nachwort den Protagonistinnen oder den Frauen allgemein eigene Lebenswünsche und -sehnsüchte oder eigenständige Gedanken und Pläne zugesteht: Er reduziert Mädchen, aber auch Ehefrauen im Kontext dieser Erzählung auf ihren Körper, ihre Sexualität. Anderes haben sie in seinen Augen offenbar nicht zu bieten. Daher lautet der Lösungsansatz, den Tolstoi im Nachwort so vehement predigt, auch Enthaltsamkeit: vor und während der Ehe. Und an dem Mord aus Eifersucht ist die Gesellschaft schuld, die Ärzte, die Väter, die älteren Brüder, die den Knaben ins Bordell bringen, damit er sich dort austobe: Da macht Tolstoi es sich wirklich einfach!
Roman oder Novelle: Es gibt einen Unterschied!
Könnte man sagen, wollte man einem Autor vorwerfen, dass er einen Teilaspekt herausgreift und nicht das ganze Drama der Ehe thematisiert. Oder anders herum gefragt: Darf man kritisieren, dass er eine Novelle schreibt, also den ›kleinen Koffer‹ wählt, bei dem alles um ein unerhörtes Ereignis zu kreisen hat – in diesem Fall: das nächtliche Geständnis im Zug, ausgelöst durch romantisch überhöhtes Geplapper? Ich glaube nicht. Ebenso wenig, wie man ihm übel nehmen kann, dass er keinen ›Falken‹ einbaut, ein Dingsymbol, in dem aller Inhalt verdichtet gespiegelt ist.
Tolstaja hingegen nennt ihre Antwort »Roman« und setzt vom ersten Satz an einen völlig anderen Fokus: »Es war ein wundervoller, klarer, jubilierender Tag.« (F, S. 7), und die Mädchen Anna sowie Natascha sind glücklich, bis sie dem Fürsten begegnen, der ihrer Mutter gegenüber sitzt: »Sie hatten aufgehört, Mädchen zu sein, und waren unversehens ins Frauenalter eingetreten. Der Fürst fühlte das dunkel, ohne sich über irgendetwas Rechenschaft abzulegen, und wieder ging ihm das Bild der schlanken bloßen Beine, der dunklen aufgelösten Haare auf Annas zurückgeworfenem Kopf und ihre geschmeidige Gestalt unter dem weiten weißen Morgenkleid durch den Sinn.« (F, S. 9) – eine Szene, die uns wohl nicht zufällig an den Beginn von Fontanes »Effi Briest« erinnert (Von Oktober 1894 bis März 1895 in sechs Folgen in der Deutschen Rundschau erstmals abgedruckt, siehe auch: https://www.marlen-schachinger.com/2018/10/01/zu-fontanes-verteidigung-oder-seitensprung-ii/).
Beide weisen die gleichen Konstanten auf: ein junges fröhliches, ausgelassenes und sich selbst gewisses Mädchen, ein älterer Mann, der nicht gerade lebensfreudig ist und mit Begehren auf ihre Lebhaftigkeit antwortet.
Die Krux des vermaledeiten Nachworts, zu dem Tolstoi sich genötigt sah
Den eingeengten Fokus, den Tolstaja ihm implizit vorwirft, könnte man sich noch mit der Novelle schmackhaft machen, wäre da nicht das Nachwort, das mehr ein lustfeindliches Manifest der Enthaltsamkeit ist. Auch darin behandelt er – wie bereits erwähnt – die Frau als Objekt, gesteht ihr außer Unschuld kein eigenes Empfinden, keine Sehnsüchte, kein Begehren zu und macht dadurch zunichte, was er zuvor in der Erzählung – am Rande, aber dennoch – thematisierte:
»Nicht darin besteht die Rechtlosigkeit der Frau, daß sie nicht wählen, nicht Richter sein kann – sich mit diesen Dingen zu befassen[,] stellt kein Recht dar [!] –, sondern darin, daß sie in geschlechtlicher Beziehung dem Manne nicht gleichgestellt ist, daß sie nicht das Recht hat, sich des Mannes zu bedienen oder sich seiner zu enthalten, wann sie es wünscht, sich nach ihrem Wunsch den Mann auszusuchen und nicht ausgesucht zu werden.« (K, S. 49)
Diese Kritik am Objektstatus, die Tolstoi seiner Hauptfigur in den Mund legt und die ja durchaus auch eine Kritik am Patriarchat ist, an der Hierarchie des Besitzens, findet im Nachwort mit keiner Silbe mehr Erwähnung. Er geht also weiter als Tolstaja und trotzdem weniger weit.
Das Recht der Frau, gleichfalls zu wählen
Und wie löst Tolstaja das Dilemma ihrer Gegenwart, in der Mädchen auf die Ehe zu warten, einen Zukünftigen als Lebensinhalt zu umgarnen haben, mit allen Möglichkeiten, die ihnen die Mode und die Gesellschaft gestatten? Sie schreibt ihrer Figur der Anna von Anfang an Lebhaftigkeit, Sehnsüchte, Lebensträume, Wünsche und Begehrlichkeiten, Sehnsüchte ein, sie lässt sie sich verlieben (dummerweise verblendet in den Fürsten, den sie auf ein Podest hebt – natürlich überlebt er den Sturz nicht), lässt sie sich erneut verlieben (in einen Todgeweihten, dem das Podest hierdurch nicht zum Verhängnis wird), lässt sie eigene Schlüsse ziehen (besser, ich lebe alleine mit meinen Kindern, ohne diesen Ehemann) und dennoch zu lange zögern, bis es zu spät ist, da ihr Ehemann sie vorher tötet.
Die Ehe als Sklaverei
Interessant dünkt mir, dass Tolstoi zwar recht hellsichtig die Herrschaftsverhältnisse erkennt (Stichwort Sklaverei), er auch vermerkt, es könne nur in den Untergang führen, wenn der Ehemann das Verfügungsrecht über den Körper der Frau hat und sie als seinen Besitz ansieht, er aber auf der Ebene der Lösungsansätze nichts anderes anzubieten hat als Enthaltsamkeit. War es ihm zu gewagt, seiner weiblichen Protagonistin zukommen zu lassen, was er in der Theorie sehr wohl erkannte: die Freiheit zu lieben und die Freiheit, sich Annäherungen zu entziehen, die Freiheit zu wählen folglich? Interessant auch, dass wir von Tolstoi zwar erfahren, der Mörder habe 11 Monate in Untersuchungshaft verbracht, ihm sei außerdem das Sorgerecht entzogen worden – doch hatte es keinerlei weiteren juristischen Konsequenzen? Vermutlich nicht. Sie war ja – sein Besitz. Das verstört – gerade auch zeitgenössische Leser*innen.
Was Tolstoi wirklich und wahrhaftig vorzuwerfen ist
Tolstois abwehrende Kritik gegenüber allem sinnlichen Leben wird nirgendwo so deutlich wie in jenen Passagen über die Kunst, insbesondere in der Rolle, die er der Musik zuschreibt: Statt uns zu öffnen, uns Weite zu schenken, vielleicht auch Ruhe oder Reflexion, uns Ausdruck zu gestatten und unsere Ausdrucksfähigkeit zu erweitern, uns Empathie zu lehren, sieht Tolstoi in Musik vor allem eine manipulierende Energie. Dies beginnt bereits beim Buchtitel. Die »Kreutzersonate« ist benannt nach Beethovens Violinsonate Nr. 9, op. 47. Dieses Musikstück widmete der Komponist dem Geiger George Bridgetower. Kurz nach der gemeinsamen Uraufführung mit Bridgetower 1803, als dieser eine von Beethoven geschätzte Frau beleidigte (bzw.: eine Frau, in die beide verliebt waren), widmete Beethoven das Musikstück enerviert dem französischen Geiger Rodoplphe Kreutzer, dieser jedoch erklärte diese Sonate für unspielbar.
Und Tolstoi?
»Die Musik ist keine göttliche Sache, sondern ein menschliches Amusement. Meine Tränen bedeuten nichts! Was wollen Sie, ich kann die Musik nicht hören, ohne zu weinen, genauso wie meine Tochter Sascha keine Erdbeeren essen kann, ohne Hautausschlag zu bekommen! Im Übrigen weine ich auch beim Lachen, es ist eine Sache der Nerven, es ist einfach eine Sache der Nerven.« (Vgl.: Schmid, Ulrich)
Der Vergleich mit der allergieauslösenden Erdbeere – also bitte, das sind doch wirklich zwei Paar Schuhe!
Doch Tolstoi geht noch weiter: Das Teuflische an der Musik sei, dass der Seelenzustand des Komponisten, der Musiker in der Musik aufs Neue entstehe, dadurch empfinde man Gefühle, die aber im Grunde genommen nicht die eigenen wären, die einen verwirren, weil man sie nicht verstehen könne (Vgl.: K, S. 118). Gleiches gälte dann aber auch für die Literatur und für die bildende Kunst. Doch nicht jede*r, der oder die Oscar Wilde las, wurde schwul, der oder die Iris Murdochs letzten Roman las, erkrankte an Alzheimer und verlor sein oder ihr Vokabular, und nicht jede*r, der oder die Konrad Bayer oder Uwe Johnson las, beging Selbstmord. Und für Malerei (Van Goghs Selbstzerstörungstendenzen) und Musik (Beethovens Schwerhörigkeit) ließen sich weitere Exempel finden. Nein: Diese Übertragung, das war und ist wirklich ein ärgerliches Argument, weil es ignoriert, dass wir als Wesen heranwachsen, die fähig zu Empathie und Abgrenzung sind. Oder beides zumindest sein sollten.
Die Kunst als Rettungsanker
Tolstois verzerrter Blick auf Kunst entsprach übrigens damals einer durchaus gängigen Meinung (Vgl.: Wisskirchen, Eva), der schon Tolstaja widersprach: In ihrem Roman ist die Kunst der Rettungsanker, der uns schwierige Zeiten ertragen lässt, unser Überleben als menschliche, fühlende Wesen sichert, die sich ausdrücken wollen. Er wird ihrer Protagonistin Anna zum Ausweg, zum Ventil, zur geistigen Nahrung.
Tolstois »Kreutzersonate«, eine Novelle, die Literat*innen bis in die Gegenwart inspirierte
Abgesehen von Tolstajas Antwort auf Tolstois Manifest der Enthaltsamkeit fühlten sich auch noch andere durch diese Novelle zum Veto inspiriert: 1923 schrieb Leoš Janáček das I. Streichquartett „Kreutzersonate“, 2002 publizierte Margriet de Moor ihre Erzählung »Kreutzersonate. Een liefdesvaerhaal« (Vgl.: Wisskirchen, Eva), um nur zwei zu nennen.
Autofiktion und die Kränkung, die sie mit ihrer Sichtweise zufügt
Dass Tolstoi für seine Zeitgenoss*innen kaum verhüllt in seiner »Kreutzersonate« ihr Eheleben schildert und Privates in die Öffentlichkeit zerrt – die Tatsache, dass er Prostituierte frequentierte oder dass auf seinem Landgut auch eine seiner Mägde samt seinem Kind lebt, das Nein der Ärzte zu einer weiteren Schwangerschaft seiner Ehefrau, die Nähe seiner Frau zu ihrem Musiklehrer, die ›Wertlosigkeit‹ der Frau für den Mann, sobald sie nicht mehr besessen/gevögelt werden kann –, all das muss massiv kränkend gewesen sein, und es half weder, dass die Gräfin jegliche Nähe zur Figur leugnete noch dass sie sich für das Erscheinen der Novelle beim Zaren stark machte; auch eine Möglichkeit, sich unliebsame Zuschreibungen vom Leib zu halten. (Denn wiewohl die Novelle 1887/89 entstanden war, durfte sie in Russland erst 1891 erscheinen. Trotzdem kursierte so manche Raubkopie, und die deutsche Übersetzung kam 1890 in den Handel.)
Tolstajas Antwort auf die Novelle ihres Mannes war von Anfang an nicht als Publikation gedacht. Zumindest nicht zu ihren Lebzeiten. Nicht der 16 Schwangerschaften, drei Fehlgeburten und 13 geborenen Kinder wegen, auch nicht weil ihr nach jahrzehntelanger Mitarbeit an seinen Romanen als Kritikerin, Kopistin und PR-Managerin für seine Werke keine Zeit geblieben wäre, einen Verleger für ihre eigene Arbeit zu suchen, sondern weil ihr Anliegen von vornherein ein anderes war: Sie wollte zur Sprache bringen, suchte den Dialog. Auch mit Tolstoi, der aber winkte ab und meinte, sie solle »[…] innere Einkehr halten und bereuen […]« (F, S. 306). In jenen Jahren, da sie sich öffentlich für die Publikation seiner Novelle engagierte, gibt uns ihr Tagebuch Aufschluss über ihren Zorn, ihre Verletztheit, wenn sie darin kritisiert, dass es in Tolstois Werk konstant ›wir‹ heiße, meine er sich selbst: »Wir gaben uns tierischen Leidenschaften hin, wir empfanden Überdruss – überall wir. Dabei hat die Frau eine ganz andere Wesensart, man darf die Empfindungen, zumindest die geschlechtlichen, nicht verallgemeinern […].« (F, S. 307) Kaum ist seine Novelle 1891 erschienen, setzt sie sich hin und verfasst ihre Antwort (1892/93), zuerst noch unter dem Titel »Wessen Fehl? Die Erzählung einer Frau«, doch bereits mit identischem Untertitel (»Anläßlich der Kreutzersonate Lew Tolstois. Niedergeschrieben von der Gattin Lew Tolstois in den Jahren 1892/93«).
Erst 1994 wird ihre Antwort auf Tolstois einseitiges Manifest veröffentlicht: Und was für eine Antwort dieser Roman ist! Das ist kein dilettantisches Kontra, kein Erstling, sondern ein komplexes, verwobenes, klar strukturiertes Erzählwerk, das sprachlich ebenso wie im Hinblick auf die Figurenpsychologie punkten kann. (Im Gegensatz dazu dünkt einen Tolstois Predigt langatmig und zäh, nur widerwillig folgt man in die 7. Windung dieser Spirale, die sich einzig wiederholt, nicht jedoch unaufhörlich weiterdreht, auf das Unausweichliche zu.)
Quellen:
Primärwerke:
Tolstaja, Sofja: Eine Frage der Schuld. RomanZürich: Manesse Verlag 2008.
K: Tolstoi, Leo N.: Die Kreutzersonate. Übersetzt von Wolfram Bacher. Wien: Buchgemeinschaft Donauland 1954.
Sekundärliteratur:
Schmid, Ulrich: Lew Tolstoi, München (Beck) 2010, S. 89 – https://comparaisondetre.wordpress.com/2020/03/27/kreutzersonaten-beethoven-und-tolstoi/
Wisskirchen, Eva: Kreutzersonaten: Beethoven und Tolstoi. https://comparaisondetre.wordpress.com/2020/03/27/kreutzersonaten-beethoven-und-tolstoi/ – Zuletzt eingesehen am 31. Mai 2023.