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Alena Mornštajnová »Stille Jahre«. Oder: Das Schweigen in Familien und den Einfluss der Politik

Alles dreht sich um die Verflochtenheit aus Politik und Privatem, um den unausweichlichen Stempel, den politische Ereignisse Individuen aufdrücken und wie diese jegliche Beziehung zu anderen Menschen prägen: Svatopluk ist überzeugter Kommunist, er wuchs als viertes Kind in den Jahren der Weltkriege auf. Schon sein Vater war ein Roter, öfters arbeitslos als arbeitend, da er nicht stillschweigen konnte und sein Engagement für die Rechte der Arbeitenden und die Pflichten der Arbeitgeber stets nach kurzer Zeit zur nächsten Entlassung führte. Selbst während der NS-Zeit war er im Untergrund tätig. Ein stiller Mann, der für seine Überzeugungen lebte; aber nie für seine Familie – so zumindest sieht es seine Frau, die als Putzfrau tätig war, um das Überleben der Familie zu gewährleisten. Kein Wunder, dass die Mutter, über ein viertes Kind keineswegs erfreut war, das noch dazu dem Vater als Helden nacheiferte.

Diesem jüngsten Sohn hat sie nichts mehr zu geben, außer einen großen Namen – Svatopluk, ›der Heilige aus dem Volk‹. Und zu solch einem Menschen wächst Svatopluk auch heran: Überzeugt von der Möglichkeit einer besseren Zukunft für alle, ist seine »Religion […] die Partei, die Götter die Parteiführer und der Himmel das Leben im Kommunismus. Gleichheit für alle, das war das Gebet, das der Vater ständig wiederholte, die Worte, die auch der heranwachsende Svatopluk beim Einschlafen auf den Lippen hatte.« (S. 43)

In den späteren 1950-er und frühen 1960-er-Jahren steigt der engagierte Svatopluk zum Direktor einer Prager Fabrik auf und wird zudem in der Partei ein höheres Tier, ohne je eine Karriere darin angestrebt zu haben, sondern weil er glaubt, was er bei Versammlungen predigt, weil er integer ist – bis, ja, bis …  Nennen wir es: bis er am Leben der anderen und den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, zerbricht. 

Daran ändert sich auch nichts, als seine Frau, eine ehemalige Pianistin aus gutbürgerlichem Hause, alles daran setzt, trotz ihres fortgeschrittenen Alters schwanger zu werden: Bohdana soll das Mädchen heißen, ›von Gott gegeben‹. Der Mutter aber sind nur wenige Jahre mit der Tochter vergönnt, bevor sie an Krebs stirbt.

Dem Mädchen wird gesagt, ihr Name beziehe sich darauf, dass ihr Vater, ihre Mutter sie erst nach rund 20 gemeinsamen Jahren bekamen, und sie nimmt diese Erklärung ihrer Stiefmutter bis in die Teenagerzeit als Faktum an, obgleich sie bemerkt, dass des Vaters Verhalten in keiner Weise zu dieser Benennung passt: Er spricht nicht mit ihr, es ist ihm unangenehm, im gleichen Zimmer zu sein, er sieht die Tochter nicht einmal an. Es existiert keine familiäre Gegenwart und die Vergangenheit ist ihm tot, er duldet auch keine Fragen danach. Dennoch thront das Klavier weiterhin im Wohnzimmer, eine verbotene ›Reliquie‹, von der man Bohdana fern hält.

Běla, Svatopluks zweite Ehefrau, ist Bohdanas ehemalige Kindergartenbetreuerin, die einzige Person im Haus, der das Mädchen nahe steht, der sie etwas bedeutet. Und umgekehrt ist Bohdana auch für Běla der einzige Grund zu bleiben.

Diese zweite Ehe stand von Anfang an unter keinem guten Stern: Der Vater, seiner ersten Frau eng verbunden, kann sich nicht vorstellen, je wieder ein ähnliches Nahverhältnis zu einem Menschen zu etablieren, doch braucht er eine betreuende Person für seine Tochter, auch um seine eigene zänkische und alte Mutter endlich wieder fortschicken zu können.

Diese Rechnung geht vorerst nicht auf, da sich die beiden Frauen bestens verstehen und ergänzen. Als Svatopluks Mutter jedoch den Fehler macht, ihre Abneigung gegen Bohdanas Mutter zu äußern und Svatopluk dies zufällig mithört, wirft er sie aus dem Haus.

Und Běla?

Sie hatte Svatopluk geheiratet, ohne ihn wirklich zu kennen, weil sie dieses Kind, das anders war als andere, liebte und beschützen wollte. Keine besonders guten Voraussetzungen für gemeinsame Jahre.

Die Lieblosigkeit der beiden Erwachsenen führt zu tagtäglichen Konflikten, jede Eigenheit Bělas ist dem Vater Anlass für spitze Kommentare, seien es ihre Collagen, ihre Lavendelzucht oder das Faktum, dass ihr kaum eine Mahlzeit gelingt, bei der nicht irgendetwas angebrannt ist, da sie ihre Freizeit lieber mit ihren Interessen verbringt, sie ihre künstlerische Klebelust ablenkt. Gegen die Gehässigkeiten Svatopluks begehrt Běla kaum je auf, entschuldigt ihn vor Bohdana sowie vor sich selbst damit, dass er eben müde sei, erschöpft, er müsse sich ausruhen. Je weniger sich Běla wehrt, umso gehässiger wird er; und tobt er sich nicht verbal aus, verbarrikadiert er sich in seinem Arbeitszimmer, hört seine Schallplatten klassischer Musik. Am Leben der anderen will und kann er nicht mehr teilnehmen. In dieser Atmosphäre wächst Bohdana auf. Sie ist nicht bloß anders als andere Kinder oder traumatisiert durch der Mutter frühen Tod – sondern wir erfahren nach und nach, dass sie sich an unbekannten Orten unwohl fühlt, nicht gerne mit fremden Menschen zu tun hat, Ansammlungen meidet. Final wird erst deutlich, dass sie irgendwann in der Kindheit aufgehört hat zu sprechen. Die Schlüsse, die Leser*innen aufgrund ihres jeweiligen Wissenstandes ziehen, stimmen nur zum Teil mit der beschwiegenen Wahrheit und den wenigen Versatzstücken, die wir nach und nach kennenlernen, überein.

Bald schon ahnt man, dass es über diese Vergangenheiten sicherlich mehr zu sagen gäbe, dass es nottäte, was in dieser nervösen und zerbrechlichen Stille begraben liegt, zur Sprache zu bringen. Daraus entsteht die Spannung, die diesen Roman trägt und die sich bis ins letzte Drittel behauptet, wiewohl man bereits alle Karten in Händen hält und sich nur noch fragt, wann wird die Tochter gleichfalls wissen, was uns in den alternierenden Kapiteln der Vater bereits erzählt hat.

Um das Lektüreerlebnis nicht zu torpedieren, sollen die komplexen Zusammenhänge hier nicht verraten werden – nur so viel: Strukturell wäre – abgesehen von der vom Vater zur Tochter zum Vater wechselnden Erzählperspektive – noch zu erwähnen, dass sich beide den Erzählfaden mit ihrem letzten / ersten Satz jeweils in die Hand geben, ein Kniff, der die (ungewollte) Verbundenheit der beiden Charaktere gleichfalls deutlich macht und der diesen wahrlich lesenswerten Roman über den Zusammenhang zwischen Politik und Privatem prägt.

 

 

Quelle:

Mornštajnova, Alena: Stille Jahre. Aus dem Tschechischen übersetzt von Raija Hauck. Klagenfurt: Wieser Verlag 2021.