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Annie Ernaux' »Erinnerung eines Mädchens«. Oder: Wo endet die Freiheit der Autor*innen, weil diejenige des Lesenden & das Persönlichkeitsrecht anderer beginnen?

 »Im Prinzip«, so schreibt Ernaux, »gibt es nur zwei Arten von Literatur, die nacherzählende und die suchende, und keine ist mehr wert als die andere, außer für denjenigen, der eher die eine als die andere praktiziert.« (S. 105) Greift diese Definition nicht viel zu eng? Nacherzählend und suchend als Gegensatzpaar? Zu welcher Kategorie gehört dann ihr Schreiben? Meinem Verständnis nach müsste ihre »Erinnerung« zur suchenden Art gerechnet werden, da es eine Spurensuche ist, die den Konsequenzen eines traumatischen Erlebnisses im eigenen Sein folgt. Ebenso könnte man jedoch auch argumentieren, dass sie nacherzählend ist, da Lebensereignisse wiedergegeben werden.

Was also differenziert die beiden Arten voneinander? Und hat die Nacherzählende stets dem eigenen Erleben, der Ich-Beobachtung zu folgen? Oder genügt es auch ein reales, inspirierendes Moment – z. B. den Tod eines Nachtfalters – zu thematisieren, selbst wenn alles andere darum herum Fiktion ist? Wäre solch eine Erzählung alsdann der ›suchenden‹ Literatur zuzurechnen? Geht es folglich im Kern dieser Differenzierung darum, ob alle Entwicklungslinien sowie das Ende bereits von Anfang an deutlich sind und im Bewusstsein des Schreibenden vorbereitet daliegen? Somit wäre in beiden Arten Fiktion eine Möglichkeit – geringfügig in der nacherzählenden, verstärkt in der suchenden. Somit entspräche in Ernaux’ Diktion Fiktion einzig einer Frage des Arrangements: Wie sehr wird reales Ich und sein Erleben bemäntelt und verkleidet? Und entscheidet man sich für diese Form der szenischen Darstellung oder – wie Ernaux – für eine strenge Wiedergabe ›der Wahrheit‹? In welche Kategorie gehören dann »Die Buddenbrooks«? De facto kann dies einzig und allein Thomas Mann beantworten, nicht wahr? Denn gemäß Ernaux’ Logik fokussieren beide Arten einzig den Ausgang (Wie viel weiß ich über meinen Plot?) – zu Beginn des Schreibakts? Am Ende? Irgendwann danach? Vor allem aber: Wie sehe ich das? Ist der Grad des Bewusstseins und der finale Status (Es gibt eine Antwort. Es gibt keine Antwort.) wirklich das entscheidende Moment? 

Nein, ich finde, das ist zu eng. Und zu sehr vom Schreibenden aus gedacht. Es stellt alles in den Dienst des Erzählakts, folgt einzig der Intention der Literat*innen und lässt das Echo eines Werkes im Lesenden außer Acht. Mir ist Literatur ein Spiegel der Weltwahrnehmung, welche der Realität, der Erinnerung oder der fiktiven Narration folgen kann. Mein Sein in der Welt ist folglich nur ein einziges Ich unter Millionen.

Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Schreiben heißt mir Welt atmen. Aufnehmen, was um mich ist; in mir verwandeln; ausatmen im Niederschreiben. Es ist eine Grundbedingung des Seins, ohne die ich nicht in der Welt sein könnte. Zentrales Element in diesem Literaturbegriff ist die Verwandlung. Es geht nicht darum, eins zu eins der Welt das eigene Ich zu erzählen, als würde sie mein Tagebuch lesen. Es geht vielmehr darum, der Welt eine aus ihr heraus entstandene Narration zu schenken, die obendrein über das rein Inhaltliche hinaus auf anderes verweist und die im Besonderen das Allgemeine reflektiert.

In gewisser Weise trifft dieser Literaturbegriff natürlich auch auf »Erinnerung eines Mädchens« zu, um dennoch an entscheidenden Punkten zu differieren: Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Trauma, das wohl vielen Frauen bekannt ist – der sexuelle Übergriff bzw. die Erfahrung, im sexuellen Akt zum Objekt des Begehrens eines Mannes verdinglicht zu werden, das ist eine Welterfahrung, die statistisch gesehen jede dritte Frau in Form eines Übergriffs macht, und die Anzahl derjenigen, die sich selbst im sexuellen Akt verdinglicht empfanden und denen es nicht gelang, im Moment des Geschehens auf eigenem Subjektstatus zu beharren und in ihm wirksam zu agieren, ist wohl noch weitaus höher.

Annie Ernaux erinnert sich daran, da dieses Erlebnis, das ihr als knapp 18-Jähriger widerfuhr, sie nachhaltig beschäftigte und es manifeste Spuren in ihrem Sein hinterließ, denen sie nun im Schreiben nachspüren will, so exakt wie irgend möglich, schonungslos. Damit macht sie von Beginn an klar, dass es ihr um ihr Ich geht, darum zu verstehen, was jenes Erlebnis mit ihr machte. Es findet sich keine Frage im Werk nach dem Erleben und den Beweggründen der anderen Protagonist*innen. Durch diesen Ich-Fokus werden aus den Lesenden Voyeure: Die zentrale Frage in der Lektüre ist nicht mehr via Identifikation das eigene sexuelle Erwachen, die Weichen, die es im persönlichen Leben der Lesenden stellte, geschah dieses durch einen Übergriff, einen Missbrauch. Ins Zentrum rückt statt Konfrontation, Zurückgeworfenheit und Reflexion die sensationssüchtige Schaulust. Und wohl auch das Mitgefühl – mit Annie Ernaux als Mensch, der dies erlebte. Jedoch nicht mit all den Mädchen und Frauen, die diese Erfahrung machen mussten, man selbst eingeschlossen. Zu manifest steht ›Ernaux‹ davor. Im fiktionalen Ausgestalten des gleichen Narrationsraumes – patriarchale Machtverhältnisse führen zu einer Dynamik des Übergriffs –, der (Welt-)Beobachten aufgrund einer Protagonistin, die uns Spiegel wird, ins Zentrum stellt, ist Empathie aufgrund unserer Identifikation mit Held*in ebenfalls ein zentrales Element. Hinzu käme jedoch außerdem die Reflexion, da uns eine Protagonistin über das Einzelschicksal hinaus auf allgemeingültige Erkenntnisse und Erfahrungen zu verweisen versteht, sie keinem einzelnen Ich entspricht, das sich manifest vor das Erleben stellt und ›Meins!‹ behauptet. Und Lesende hätten zudem die der Fiktion konstant innewohnende Freiheit, die stets existente Hintertür zu öffnen: Alles ja bloß ausgedacht. (Samt der Frage, die sich so gerne sogleich zu diesem Gedanken gesellt: Oder ist die Erzählung autobiografisch? – Und der resoluten Antwort: »Zu 17,3 %. Nächste Frage, bitte.«)

In der fiktionalen Ausgestaltung bestünde zudem die Möglichkeit, den Lesenden mittels perspektivischer Ausgestaltung in die Gruppe und ihre Dynamik einzuschreiben – was eine eigene Auseinandersetzung mit dem Aspekt des Mitläufertums zur Folge hätte. 

Die erste sexuelle Begegnung in Ernauxs »Erinnerung« (nicht Erzählung) kennt keine Nähe, sie ist ein Übergriff, dem sich das Mädchen-Objekt auch danach nicht entziehen kann, da dies ein Verstehen der Vorgänge voraussetzen würde. Neben ihrem jugendlichen Alter trägt auch die Gruppendynamik dazu bei: Der Übergriff findet unter den Betreuenden einer Ferienkolonie statt. Der übergriffige Mann ist der Chefbetreuer. Er übersieht sie am nächsten Tag, macht sie lächerlich, wendet sich einer anderen jungen Frau zu, um sein Begehren zu stillen. Es ist die übliche Grausamkeit, die wohl alle Menschen in diesem oder jenem Setting einmal erleben, in der »Erinnerung« gesteigert durch die Gruppe der Betreuenden – allesamt Student*innen oder junge Lehrer*innen –, die sich in des Chefbetreuers Weltsicht einfügt. Die Gruppe gefällt sich in dieser sexuell aufgeladenen Atmosphäre, in den Anzüglichkeiten und Witzen, die zumeist auf Kosten einer anderen Person in der Gruppe oder im Außen gehen.

Bezeichnend war für mich, dass in der Lesezirkel-Diskussion des Werks das Gespräch um Annie Ernaux kreiste: ihre Erfahrung, den Mut, sich selbst zu sezieren, in dieser Spurensuche. Und in zweiter Linie die Frage, wie ihre Kinder, ihr Partner mit dieser Form der Öffentlichkeit umgehen. Die Frage nach der gesellschaftlichen Dynamik dahinter war durch Frau Ernaux verstellt. Einzig das eigene Ich konnte noch in Konsequenz nachrücken – weitaus kleiner, angedeutet, unwichtiger. Schließlich bekam sie den Nobelpreis und nicht die Gruppe der Lesenden mit ihren Lebenserfahrungen, die in der Andeutung verharrten.

Die Konsequenz des Erlebnisses für Ernaux ist nicht bloß ein 2-jähriges Ausbleiben der Menstruation sowie eine Bulimie-Erkrankung, die damals – wir sprechen vom Jahr 1958 – niemand so nennt, sondern auch ein rigider Lebensplan, um so zu werden, wie ›Mann‹ einen – gemäß Rückschluss aufgrund des Erlebten – haben will: schlanker, weltgewandter und blonder.

Selbst an dieser Stelle, in der Schilderung einer Entwicklung, die wohl extrem häufig Teil eines weiblichen Lebens ist – sei es als vorübergehende Phase, sei es als langjährige Konstante –, kommt es als Lesende nicht zur Identifikation: Die Figur in der »Erinnerung«, von der so eindeutig gesagt wird, sie sei Annie Ernaux, gestattet uns das ebenso wenig wie das Faktum, dass wir keiner Erzählung in Szenen folgen. Es wird geschildert und nicht dargestellt; das aber hat entscheidende Auswirkungen auf das Lektüreerleben, denn es mindert den Raum, den Lesende im Werk für sich zur Verfügung haben. 

Auf die Anpassungsversuche an vermeintliche männliche Präferenzen folgt der Abbruch der Lehrer*innenausbildung und Ernaux’ Weggang ins Ausland (Au-pair in London), Stehlen als abenteuerlicher Kick und ohne Notwendigkeit des Überlebens kommt hinzu. Rückkehr nach Paris, Beginn des Philosophiestudiums – und je länger dieses währt und zum eigenen Verstehen der Ereignisse beiträgt, insbesondere auch durch die Lektüre von Simone de Beauvoirs »Le deuxième sexe«, desto manifester wird die Scham: Warum hat man mitgemacht, wieso hat man sich nicht durchsetzungskräftiger gewehrt, weshalb hat man sich zum Objekt degradieren lassen, man nahm doch wahr, wie einem dabei das eigene Ich verlustig ging, weshalb konnte man sich nicht entziehen?

All diese Ereignisse, sei es im Ferienlager, in der Zwischenphase der Lehrer*innen-Ausbildung, als Au-pair in London oder als Studentin in Paris, werden uns mit Vornamen und den Initialen der Nachnamen aller Beteiligten zur Beurteilung vorgelegt: Ja, so empfand ich es, als hätte Ernaux mit meinem Öffnen des Buches entschieden, ich hätte Richterin zu sein, ob ich dies nun wolle oder nicht; keineswegs sprach sie jedoch die Einladung mittels Gestaltungselementen aus, ich solle mich identifizieren. Sie aberkannte mir als Lesende alle Freiheit in diesem Erzähluniversum, das nicht erzählen, sondern einzig erinnern will.

Wir kennen die Orte, ihre Namen, ihre Beschreibungen, die dazu dienen, dass sich Ernaux diese Örtlichkeiten in Erinnerung ruft. Wir erfahren alle Figurennahmen, lesen Beschreibungen ihrer Personen – blond, Lehrerin aus Rouen, so und so alt … Ja, wir blicken sogar über die Schultern, lesen Abschnitte aus Briefen mit.

Und ich zumindest empfand dabei massives Unbehagen auch noch aus einem weiteren Grund:

Natürlich ist es durchaus legitim, zu veröffentlichen, dass man hungert, um der schlanken blonden Nachfolgerin im Bett zu entsprechen, oder dass man sich Zeige- und Mittelfinger zu diesem Zweck in den Rachen stopfte, solange – ja: – solange all dies die eigene Person betrifft und ich als Literatin entscheide, was ich über mich mitteile und ob ich es bemäntle oder nicht. – Doch was, wenn meine Au-pair-Zeit von einer Freundin begleitet wurde, die Kleptomanie ihr Problem ist und ich einzig mitlaufe, man sie bei einem solchen Diebstahl-›Abenteuer‹ verhaftet? Und was, wenn ich obendrein alle Schuld bei ihr verorte: Ihre Idee, ihr Plan, ihre Umsetzung, ihre Kleptomanie … Genügt es dann zu vermerken:

»Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Diese Ungewissheit und die lange Zeit, die vergangen ist, nehme ich als Erlaubnis [sic], von den Ereignissen, an denen sie beteiligt war, zu erzählen. Als würde diejenige, die vor mehr als einem halben Jahrhundert aus meinem Leben verschwunden ist, nirgendwo mehr existieren – oder als würde ich ihr jede Existenz außerhalb derer verweigern, die sie mit mir zusammen gehabt hat.« (S. 152)

Als würde ich ihr jede Existenz außerhalb verweigern … Allein diese Aussage verstärkt in mir erneut den Widerstand, denn Ernaux tätigt sie, wissend, dass es sich bei dem erzählten Inhalt um eine Bloßstellung derjenigen handelt, die man einst Freundin nannte. Dennoch löscht sie das Kapitel nicht oder verändert es. Obgleich es ein Leichtes wäre, sie wegzulassen oder sie unkenntlich zu zeichnen! Alles ›der Wahrheit‹ wegen? Sie wird, ohne es zu bemerken, darin selbst wie diejenigen jungen Menschen aus der Ferienkolonie-Gruppe, die sich selbst über andere erhöhen und keinen Deut darum scheren, was diese Handlungsweise für andere Menschen bedeutet. »Gewissermaßen habe ich meine Skrupel bis jetzt, bis zu diesem Punkt, da ich weiß, dass ich die Seiten, die ich über sie geschrieben habe, nicht mehr weglassen – opfern – kann, beiseitegeschoben.« (S. 153)

Alle Bedenken eben beiseitegeschoben, wen interessieren schon andere Menschen? Dabei wäre die Darstellungstechnik der Verfremdung durchaus eine Möglichkeit gewesen, die Privatsphäre dieser Frau zu schützen und sie hätte der Wahrheit der Dynamik – Verletzung, psychosozialer Stress, Versuch einer Sichtbarkeit, Zwangsstörung, Problematik der Affekt- und Impulsregulation – keinerlei Abbruch getan. Sie hätte bloß die Maxime verletzt, alles ›der Wahrheit gemäß‹ darzustellen. Wobei sich Ernaux nie fragt, ob ihre Wahrheit auch diejenige der anderen ist! Welche Erinnerung käme auf das Papier, würde man jene Freundin befragen? Warum nicht den Inhalt thematisieren, ja, aber ihre Individualität schützen, indem man aus dem widerspenstigen Gör, das noch den eigenen Weg sucht, ein anderes widerspenstiges und sich selbst suchendes Gör macht? Aus klein wird groß, aus dunkelhaarig brünett, aus einer Herkunftsfamilie in X. wird eine Mutter in Y., aus einer Vorliebe für Klamotten im Collage-Stil werden Schottenkaros oder so ähnlich. Wozu in aller Welt brauchen wir ›die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr mir G*tt helfe‹ in der Literatur? Damit wir zu Gericht sitzen dürfen? Sollte das Schreiben nicht haltmachen, sobald andere Menschen betroffen sind? In Ernaux’ »Erinnerung« kommt das Thema der Diskrepanz zwischen der Freiheit der Autorin, des Autors und dem Schutz anderer Individuen aufgrund ihres Rechts auf Privatsphäre – abgesehen von obigem Exempel – bei keiner weiteren Figur nicht vor, die durchaus auch – mit etwas Recherchezeit – sicherlich gefunden werden könnten.

In meinen Augen bedeutet solch eine Erzähl- (verzeih: Erinnerungs-)Haltung auch: In und mit diesem Werk tun, was das zentrale Trauma in Ernaux’ Jugend ausmachte: Subjekte zu bloßen Objekten machen. Und sie sieht sich dazu berechtigt, weil sie als anerkannte Literatin die Macht dazu hat: Sie macht die Figuren in der Umgebung ihres Ichs zum Objekt.

Es dünkt mir grausam, und ich hätte das Werk sicherlich nach fünfzig Seiten beiseite gelegt, wäre es nicht meine Aufgabe gewesen, die Lesezirkel-Debatte darüber zu leiten. So fragte ich mich während des Lesens konstant: Wozu? Warum in aller Welt soll jemand eigenes Erleben in die Welt hinausschreien? Was hat die Welt davon, dies, versehen mit einer dreifach unterstrichenen Wahrheitsbehauptung, zu erfahren? Genügt für ›schonungslose Offenbarung‹, vor allem aber für die Spurensuche eigener Entwicklung, nicht das eigene, ganz private Tagebuch? Welche gesellschaftliche Dynamik bildet sich darin ab, wenn ›privat‹ und ›öffentlich‹ nicht mehr differieren? Wenn alles ein Marktplatz ist, auf und mit dem gehandelt wird?

Ernaux selbst gibt erst in den letzten Sätzen eine Antwort auf die Frage nach ihrem ›Wozu?‹, und zwar indem sie einräumt, dass sich im Schreibakt die Intention, die einst vorhanden war, im Schreiben aufgelöst hat; nicht nur das, auch der Inhalt des Buches wird ihr nach dem letzten Satz bedeutungslos:

»Schon verblasst die Erinnerung an das, was ich geschrieben habe. Ich weiß nicht, was dieser Text ist. Selbst das, was ich mit dem Schreiben des Buchs bezweckte, hat sich aufgelöst.« (S. 164)

Sie selbst hat nachzublättern, um sich an das Warum zu erinnern:

»In meinen Notizen habe ich eine Art Absichtserklärung gefunden:

Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.« (S. 164)

Durchaus eine interessante Intention – aber bedarf es dafür wirklich der R, des H, des Jacques R und all der anderen, die für uns als Lesende völlig bedeutungslos sind, die keine Fallhöhe erlangen, weil sie nicht szenisch aufgebaut wurden, deren Gang ins Kittchen uns nicht bewegt und deren ausgeübter Beruf als Lehrender uns höchstens kopfschüttelnd seine und ihre Fähigkeit zu pädagogischem Handeln infragestellen lässt.

Dass Ernaux keine Differenz zwischen der Freiheit, über sich selbst zu sprechen und zu schreiben – es muss ja niemand lesen, der diesen Inhalt nicht lesen will –, und der Freiheit der anderen macht, ist kein Einzelfall, natürlich nicht; es ist eine zeitgenössische Modeerscheinung, die mir – und dieser Wahrheit bitte auch die Ehre: – schon viel zu lange dauert: Die ›wahre Begebenheit‹ boomt. Als läge in ihr die Königsdisziplin der Literatur! Ihr an der Seite steht selbstgewiss die Ich-Darstellung im Posting in all den Social Media-Foren: Ich habe gekocht, ich habe einen Kuchen gebacken, seht her! (ein Foto muss her, von Schnappschuss bis zu gekonntem Arrangement, gerne auch mit Katze), ich habe den Lesestapel abgearbeitet, jetzt kommt der nächste an die Reihe! (Aber kein Gedanke darüber, was gedacht wurde.) – Auch hier stellt sich mir allzu oft die Frage: Wozu? All diese Selbstdarstellungen, wieso? Damit irgendwer sagt, das sieht aber lecker aus, wow, wie toll? Wäre der Kuchen weniger gelungen, wenn er bloß den Freund*innen, um den Tisch versammelt, munden würde?

Es geht mir nicht darum, eigenes (Er-)Leben nicht als Material der Literatur zu nutzen, das wäre absurd. Schließlich hat diese Inspirationsquelle auch damit zu tun, dass wir Literat*innen uns frühzeitig in Beobachtung erleben (Ernaux: »Ich habe begonnen, mich selbst zu einer literarischen Figur zu machen, zu jemandem, der die Dinge so erlebt, als müssten sie eines Tages aufgeschrieben werden.« (S. 155)). Die Welt und unser Erleben darin ist unser Trainingslager. Unsere Beobachtungsfähigkeit aber gibt uns – in meinen Augen – nicht das Recht, andere Menschen bloßzustellen. Solche Art der Literatur unterscheidet sich kaum vom Kochen in der Gerüchteküche, von der Schmiererei in fetten Lettern an einer Hauswand; und sie tut nicht not, um den Abgrund nachvollziehbar darzustellen, der zwischen einem Ereignis im Moment des Erlebens und der merkwürdigen Unwirklichkeit liegt, die es erhält, weil wir Menschen dazu tendieren, es in seiner Verstörung von uns zu schieben.

»Aber wozu schreibt man«, notiert Ernaux, »wenn nicht dazu, Dinge hervorzuholen, und sei es nur ein einziges Ding, das sich allen psychologischen und soziologischen Erklärungsversuchen widersetzt, das sich weder aus einer vorgefassten Meinung noch aus einer Schlussfolgerung ergibt, sondern aus der Erzählung, etwas, das aus den aufgeschlagenen Falten der Erzählung zum Vorschein kommt und helfen kann zu verstehen – und zu ertragen –, was passiert und was man tut.« (S. 103)

Würde sie sich selbst beim Wort nehmen, müsste ihr Erinnern, das kein Erzählen ist, jenseits ihres Ichs innehalten: … zu verstehen – und zu ertragen –, was passiert und was man tut … Und entsetzt innehalten, weil sie, die doch die Objektwerdung eines Ichs verstehen und ertragen will, Gleiches mit ihrem Zeigefinger auf R, auf H, auf wen-auch-immer tut.