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Charles Dickens: A Christmas Carol. Oder: Der Genuss wundervoller Ironie.

 

Alle kennen wir die Geschichte – oder glauben sie zu kennen, wir sahen ja die Verfilmungen. Doch kaum einer hat Charles Dickens »A Christmas Carol« wahrhaftig gelesen. Sollte man aber, denn schon der erste Satz ist schlicht grandios:

»Marley was dead, to begin with […]« lautet er und öffnet die Tür sogleich weit zur Ironie, die insbesondere den Beginn dieser Erzählung prägt.

Ob dieser erste Satz, der uns auch in die Irre führt, denn um Marley wird es nur am Rand gehen, in der deutschsprachigen Übersetzung aus dem Jahr 1843 von Carl Kolb

»Marley war tot; damit wollen wir beginnen.«

lautet oder wie in der jüngeren Version von Eike Schönfeld

»Marley war tot; dies zu Beginn.«,

das stellt zwar eine nuancierende Differenz dar und das majestätische Plural könnten wir durchaus einladend empfinden, dennoch bleibt es im Hinblick auf das Original diskussionswürdig. Ebenso, ob die Veränderung in der Interpunktion wirklich hätte sein müssen. Darüber ließe sich gleichfalls seitenweise streiten. Auf jeden Fall aber heißt der nächste Satz:

»Darüber gibt es nicht den geringsten Zweifel.«

Dieser kann auch nicht darüber bestehen, ob man eventuell besser daran tue, das Werk im Original oder beide Sprachen komparatistisch parallel zu lesen, die deutschsprachige Variante ist sicherlich wunderbar, um sie eigenen Kindern vorzulesen oder für den müden Abend eines langen Arbeitstages.

All das kann man diskutieren, wenn man will; nicht aber, ob die Geschichte um den bitteren, geizigen, eckig-unguten Ebenezer Scrooge ein Genuss ist: Vorzugsweise an einem Winterabend im Dezember, eingehüllt in eine Decke, während einem das Feuer im Kachelofen wärmt, eine Tasse Ingwer-Tee in der Hand, damit einem neben dem alten Geizkragen nicht fröstle. Denn das kann er: Bitterste Kälte um sich verbreiten, bis jeder in seiner Nähe friert, ja, selbst die Blindenhunde meiden es, an ihm vorbeizugehen und ziehen ihre Besitzer in schützende Türeingänge und Toreinfahrten. Offensichtlich hat der Ungustl die Bedeutung seines Vornamens – Ebenezer kommt im ersten biblischen Buch Samuel 7,12 vor und steht für ›Stein der Hilfe‹ – im Laufe seiner Lebensjahre vergessen. Womöglich auch weil selbst sein Vater einst fand, es lohne sich kaum, den Jungen zu Weihnachten aus dem Internat nach Hause zu holen.

Das düstere Scrooge-Universum fungiert als Kontrapunkt zum ironisch heiteren, allwissenden Ich-Erzähler, der uns so herrlich lakonisch unterhält.

»Der alte Marley«, mit dem wir begonnen haben, »war so tot wie ein Türnagel. Wohlgemerkt! Ich möchte damit nicht behaupten, dass meines Wissens nach ein Türnagel etwas besonderes Totes an sich hätte. Was mich betrifft, würde ich eher einen Sargnagel als das toteste Stück Eisen betrachten, das im Handel zu haben ist. Aber die Weisheit unserer Vorfahren ruht in diesem Gleichnis; und meine unberufenen Hände sollen es nicht zerstören, sonst ist es um unser Land geschehen.« (S. 7)

Wunderbar! Anders kann man das nicht nennen. Und Charles Dickens setzt dem Ganzen in den nächsten Seiten immer noch eines obendrauf, manchmal spitzzüngig:

»Auch ist es Tatsache, […] dass Scrooge von dem, was man Phantasie bezeichnet, so wenig besaß wie sonst jemand in der City von London, einschließlich - wenn es erlaubt ist, das zu sagen – des Stadtrates, der Ratsherren und der Zünfte.« (S. 25)

Manchmal philosophisch-klug:

»[…] er ließ sie lachen und kümmerte sich wenig darum: denn er war weise genug zu wissen, dass nichts Gutes in dieser Welt geschehen kann, worüber nicht von vornherein einige Leute lachen müssen. Weil er aber wusste, dass solche Leute doch blind bleiben würden, dachte er bei sich, es sei besser, dass die falten in Ihren Gesichtern eher Lach- als Kummerfalten waren. Sein eigenes Herz lachte, und das war ihm genug.« (S. 172)

Damit aber sind wir bereits beim zweiten Grund angekommen, warum sich die Lektüre lohnt: Was für mich in keiner Verfilmung je durchkam, ist nämlich der Gedanke, der diese Erzählung von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende dominiert: Scrooge ist nicht bloß ein Geizkragen und ein empathieloser Egoist, er ist vor allem ein bitterer Mensch, der in seinem Sein keinerlei Freude mehr kennt und dem die Fähigkeit zur Wahrnehmung seiner Umwelt abhandenkam. Stumpf ist er geworden, in dieser Narrenwelt, in der er glaubt, leben zu müssen (S. 12) und in der nur die Finanz existiert, welche obendrein konstant genährt werden muss. Und kein einziges Mal – weder für sich, schon gar nicht für andere – genossen. Selbst das Feuer, das er sich abends im Kamin gönnt, ist kaum der Rede wert, seine Besitztümer sind verschlissen und bringen im Pfandhaus keine nennenswerten Summen ein. 

Während der Nachtstunden an der Seite der drei geisterhaften Wesen – »Ghost of Christmas Past«, »Ghost of Christmas Present«, »Ghost of Christmas Yet to Come« – lernt er erneut zu empfinden, zuerst Angst und Reue, fühlt zum ersten Mal seit Jugendjahren wieder etwas, kann sich alsbald sogar fröhlich an unsinnigen, aber erheiternden Sprachspielen, Scharaden und Ratereien im Haus seines Neffens erfreuen. Die Emotionen, die durch das starr auf Produktion ausgerichtete Vernunftdenken verschüttet gingen, kehren zurück; insbesondere auch durch die Erinnerung an Mr. Fezziwig, seinen eigenen ersten Brötchengeber, der die Balance noch zu halten wusste, zwischen Arbeit und Vergnügen, zwischen Kapitalismus und Großzügigkeit, und der in der Lage war, auch während der Stunden im Kontor gute Laune zu verbreiten, weil sich seine Freude (auch an der Arbeit) auf andere übertrug.

»A Christmas Carol« ist also vor allem eine Geschichte über einen innerlich toten Menschen, der wieder lebendig wird und Anteil am Leben der anderen zu nehmen beginnt, was sich vor allem darin zeigt, dass Scrooge zu lachen beginnt. Er lacht über Truthähne und verdutzte Menschen, über nötige Transportvehikel, lächelt Kindern zu, lacht in Gedanken an überraschte Gesichter und das sogar seitenlang. Froh ist er, aus kalter Erstarrung endlich aufgewacht zu sein, als soziales Wesen mit anderen Menschen zu interagieren: Das ist der Kern der Botschaft von »A Christmas Carol« und deswegen ist diese knappe Erzählung von rund hundert Seiten lesenswert und in ihrer Aufforderung, die uns umgebenden Menschen wahrzunehmen, höchst aktuell.