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Colette »Diese Freuden/Le Pur et l’Impur«. Oder: Traurig von der Lust sprechen.

Wer sich die hohe Kunst literarischer Porträts aneignen will, sollte Colette studieren. In »Diese Freuden« bringt sie sich von Anfang an als ›Ich‹-Figur ein, verwischt dabei obendrein die Grenze zwischen der Autorin Colette und der Ich-Erzählerin im Werk, in dem das Ich von anderen als die Autorin von »Chéri« bezeichnet wird (S. 42) und das Ich selbst Bezug auf bestimmte maskulinen Kleidervorlieben oder das Changieren zwischen den Geschlechtern nimmt.

In aufeinander folgenden Abschnitten, die verwischte Übergänge aufweisen, widmet sich Colette jeweils einem Charakter: Am Beginn steht ›Charlotte‹, eine ältere Adelige in den Wechseljahren (S. 22), die mit einem jungen, eifersüchtigen Liebhaber liiert ist, zu dessen Beruhigung sie Orgasmen vortäuscht. Ihr Porträt geht über in dasjenige des Schauspielers Édouard de Max, der den Höhepunkt seiner Karriere schon überschritten hat. Ein alternder Don Juan, der einen rührt. Es folgt »die Chevalière«, eine lesbische Frau, die in ihren Gesellschaften die weibliche LGBTQ+-Community ihrer Zeit um sich sammelt – und hinter deren Porträt sich unschwer zu erkennen ›Missy‹ verbirgt, Mathilde ›Max‹ de Morny, Marquise de Balbeuf. Crossdressing wird Thema, bevor sich Colette der heute beinahe in Vergessenheit geratenen Dichterin Renée Vivien widmet, eine Britin, die in Paris lebte und deren Lebensgestaltung sich – insbesondere wegen ihrer Alkoholkrankheit und Magersucht – stets entlang von Abgründen bewegte, bis sie daran zerbrach: Colette stellt sie alle mit Einfühlungsvermögen und in solch lebendiger Dichte dar, dass man den Eindruck gewinnt, man würde in jenen Szenen gerade eben neben ihnen stehen, die Gespräche mithören, das Lachen, das Scherzen, die Versuche, Würde zu wahren, selbst wenn andere sie einem absprechen; und alsdann zumindest miteinander in feiner Ironie darüber miteinander lächeln, weil sich dadurch manche Phänomene einer Gesellschaft am angenehmsten ertragen lassen: Was wären wir ohne die Kunst der Ironie, angesichts einer Welt, die so gerne diesen und jenen Menschen einzig am Rand duldet?

Doch ein roter Faden zieht sich – implizit und höchst dezent – durch diese Porträts, und zwar die Frage, ob das Ich – also: Colette – eine Frau sei:

Für ›Charlotte‹ auf jeden Fall, und obendrein eine, der man – nach miteinander genossenem Besuch in einer Opiumhöhle – mehr mitteilen könne als jeder Freundin, denn diese »[…] wagen, was ihnen in Wahrheit fehlt, niemals einander anzuvertrauen […]« (S. 25). Der Don Juan hingegen spricht ihr sogleich jede Weiblichkeit ab:

»Sie, eine Frau? Das könnte Ihnen so passen …« (S. 57)

Wenige Zeilen später wird das Thema erneut aufgenommen, denn

»Damiens Ausspruch schmerzte mich ziemlich lange; der Zufall wollte, daß es einer seiner letzten war; ich fand kaum mehr Gelegenheit, ihm zu gestehen, daß ich dazumal gern eine Frau gewesen wäre. Ich spiele nicht auf eines meiner einstigen Erscheinungsbilder an, ein öffentliches Bild, dessen Erläuterung, äußere Einzelheiten, Kostüm ich prahlerisch anordnete. Ich meine den echten geistigen Hermaphroditismus, der manche, in hohem Maße zielstrebige Menschen belastet. Wenn Damiens Richtspruch mich erboste, so weil ich damals diese Ambiguität, ihre Plagen und ihre Vorrechte von mir tun und sie, noch warm, einem Mann zu Füßen legen wollte, dem ich einen rechtschaffenen, ganz weiblichen Körper und seine vielleicht trügerische Bestimmung als Dienerin darbot. Doch er, der Mann, täuschte sich nicht. Er wußte mich männlich […], und obgleich es ihn verlockte, ergriff er die Flucht.« (S. 58) 

Diesen hier bereits angedeuteten Entwicklungsprozess, den jede Frau, die sich nicht den klassischen Rollenbildern ihrer Zeit unterwerfen will, durchläuft, thematisiert Colette einige Seiten später noch einmal:

»Eine Frau bedarf großer und seltener Ehrlichkeit, einer noblen Bescheidung, um zu beurteilen, was in ihr schwankt und statt dem offiziellen dem heimlichen Geschlecht zuzuteilen ist.« (S. 62)

Daraus entwickelt sich die Überleitung zu einer Welt der Frauen, die sie alsdann zeichnet, zuerst in den Gesellschaften untereinander:

»Im Schutze solcher Abzeichen wie gefälteltes Plastron, steifer Kragen, gelegentlich Weste, immer seidenes Einstecktuch verkehrte ich in einer am Rande aller Welten untergehenden Welt.« (S. 64)

Doch kaum eine wagt Sichtbarkeit außerhalb: 

Es ist ein Sein hinter verschlossenen Türen, dem im öffentlichen Raum »[…] ei[n] lange[r] Vorstandsdamen-Mantel […]« angelegt wird, um den Sakko-Anzug und das eingefasste Jackett zu verbergen (S. 65). »Bei diesen zugleich freien und verschüchterten Frauen, die durchwachte Nächte, Halbschatten, Müßiggang, Spiel liebten, bin ich Zynismus nahezu nie begegnet […]« (S. 67), nicht einmal, als eine deutsche Prinzessin ihre Partnerin mit den Worten ›meine Rechtmäßige‹ vorstellte. Da rümpften die Französinnen bloß die Nasen und eine meinte lakonisch:

»Nicht, daß ich mich verstecke […], aber ich mag mich nicht zeigen.« (S. 67)

Diese Welt neben der Welt wird zum Ausgangspunkt der kommenden Einblicke, die Colette in die Gesellschaft frauenliebender Frauen ihrer Zeit gewährt, die durchschnittlichen Leser*innen einst wohl mehrheitlich unbekannt waren. Ob es heute so viel anders ist? Insbesondere in Werken wie diesen, die sich dem Voyeurismus verwehren und die dennoch zu ergründen suchen, was Menschen aneinanderbindet. Zwischen Frauen, so Colette, sei es nicht bloße Leidenschaft, sondern eine Art Verwandtschaft, die alsdann über die Jahrzehnte Bestand habe, eine Ähnlichkeit , die bestehe, die das Miteinander nähre, auch im Sexuellen: »Welche Freundin schämte sich nicht, ihre Freundin nur zur Stunde der Lust aufzusuchen?« (S. 105), schreibt sie und hält damit auch ihrer Zeit, die Nähe zwischen Mann und Frau jenseits der Rollenerwartungen kaum kannte oder sogar ihre Möglichkeit als partnerschaftliches Miteinander infrage stellte, einen Spiegel vor.

Es ist ein sehr liebevoller Blick auf diese Menschen, den Colette sich und uns hier gestattet und der uns deswegen auch Jahrzehnte später noch berührt. Seien es Eleanor und Sarah, deren Tagebuch sie uns in Ausschnitten mitlesen lässt, mit Zeilen, zwischen denen hinter einem Alltag am Land das Ungesagte einer Zuneigung hindurchschimmert, sei es das Elend einer verlorenen Seele wie Renée Vivien, die neben Colette in der Rue Paul Valéry wohnte und die sich bei ihren Gesellschaften immer krampfhaft bemühte, beste Laune zu zeigen, heiter zu wirken, zu lächeln, immer zu lächeln obgleich darunter eine tiefe Trauer lag, auch in ihrer »unsinnige[n] Magerkeit« (S. 92), in ihrem sich zu Tode hungern, dessen schmerzliche Zeugin Colette wurde.

Nein, sie schont uns nicht, sondern lässt uns vielmehr an der Schwierigkeit teilhaben, dabei zusehen zu müssen, »[d]enn die Freundschaft, die man einem bereits zersetzten, seinem Fall zustrebenden Menschen entgegenbringt, gehorcht nicht den Einflüsterungen der Eigenliebe.« (S. 92)  

Ursprünglich, 1932, betitelte Colette diese Porträts mit »Ces Plaisirs …«, eine Wahl, welche die deutschsprachige Übersetzung des Werkes bis heute als Haupttitel aufgreift – wohl auch, weil das für die spätere Ausgabe (1941) gewählte »Le Pur et l’impur« nicht ohne Bedeutungsverlust zu übersetzen wäre. Colette selbst wählte zuerst »Ces Plaisirs …« in Anspielung auf einen Satz aus ihrem Roman »Le blé en herbe« (in der deutschsprachigen Übersetzung mit dem schwülstigen Titel »Erwachende Herzen« malträtiert): »Ces plaisirs, qu’on nomme à la légère physiques« (Diese Freuden, die man leichthin körperlich nennt.), heißt es dort. Sie bezieht sich aber auch in den Porträts selbst darauf:

»Die verschleierte Gestalt einer scharfsinnigen, skeptischen, in Betrug, in Takt bewanderten Frau steht zu Recht an der Schwelle dieses Buches, das traurig von der Lust sprechen wird.« (S. 27)

Die Abänderung des Titels kommentierte Colette 1941 selbst wie folgt: »Wenn ich eine solche Änderung rechtfertigen müßte, fände ich nur ein lebhaftes Gefallen an kristallklaren Klängen, eine gewisse Abneigung gegen Auslassungspunkte, die einen unvollständigen Titel markieren – kurz Gründe von sehr wenig Bedeutung.« (S. 164)

Inwiefern es ihr gelang mit diesem Werk ein weibliches Pendant zu Marcel Prousts »Sodom et Gomorrhe« (Erstveröffentlichung in zwei Büchern 1920 und 1921) zu schaffen, das wollen wir uns demnächst ansehen!

 

 

Colette: Le Pur et l’Impur. Diese Freuden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2017.