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Colette: »Gigi«. Oder: Die Kunst zu sagen, was man denkt.

Am 15. Juni 1944 erschien erstmals »Gigi et autres nouvelles«, die letzte Publikation Colettes, die ihre Werke seit »Le Blé en Herbe« (1923) nur noch mit dem Vornamen kennzeichnete. Der Band enthielt eine Sammlung von zwei kurzen Erzählungen (»Gigi« und »La Dame du Photographe«), ergänzt durch einen autobiografischen Text mit dem Titel »Noces«, der zu »Gigi« ein inhaltliches Pendant darstellte. Außerdem veröffentlichte sie darin das Prosagedicht »Flore et Pomone«.

Dass der Band folglich noch während der Okkupation Frankreichs vorbereitet worden war, ist nicht unwesentlich, sich in Erinnerung zu rufen (Vgl.: frz. Ausgabe, S. 7).

In der zweiten Auflage 1945 war »Noces«, was nichts anderes als ›Hochzeiten‹, bedeutet, bereits nicht mehr enthalten: Diese autobiografische Erzählung schließt an das Ende der in »Gigi« dargestellten Handlung an und thematisiert die ersten Jahren Colettes in Paris an der Seite des Lebemannes Willy, der zuerst als gern gesehener Gast in Colettes Elternhaus ein und aus gegangen war, alsdann ihr Geliebter wurde, doppelt so alt wie sie, und für den sie in seiner Schreibfabrik die berühmten »Claudine«-Romane verfasste. »Noces« wurde durch die letzten Gedanken im Leben eines kranken Kindes (»L’Enfant malade«) ersetzt (Vgl.: frz. Ausgabe, S. 8). Eine Begründung dafür konnte ich vorerst nicht finden, es könnte jedoch durchaus mit den Erscheinungsjahren zu tun haben: 1944 die gedankliche Fluchttür in die Welt der Belle Epoque, der Kurtisanen und der Boheme, 1945 – zumindest final – ein ernsterer Ton? 

In der Erzählung »Gigi« jedenfalls werden die entscheidenden Momente zwischen Kindheit und Frauenleben dargestellt. Gilberte, Gigi genannt, wächst in der Obhut ihrer Großmutter, die sich Madame Inez Alvarez nennen lässt, wohlbehütet auf. Ihre Mutter, eine Sängerin und Schauspielerin, hat kaum Zeit oder Gedanken für die Tochter, weil ihr Beruf vormittags Ruhe und Proben, abends Aufführungen und Sozialleben bedingt. So beaufsichtigt die Großmutter jeden Schritt und wird dabei von der kritischen Tante, die gleichfalls um die 70 ist, mit Argusaugen überwacht: Damit ja keine Lebenschance durch ungebührliches Verhalten Gigis verspielt werde, denn Gigi, gerade einmal 15 1/2 Jahre alt, soll Kurtisane werden, geht es nach Großmutter und Tante, denn die Frauen in dieser Familie heiraten nicht: Das wäre nur etwas für »gewöhnliche Leute«, so  die Belehrung durch die Tante. Eine Alvarez heirate höchstens »schließlich doch noch« (Vgl.: S. 59). Folglich nehmen in der Erziehung Edelsteine und Manieren, Fußpflege und Mode einen wesentlicheren Bestandteil ein als jedwedes andere Wissensgebiet, und die Reinigung des Unterleibs sei wichtiger als das Waschen des Gesichts, das durchaus auch einmal wegen Müdigkeit auf den nächsten Morgen vertagt werden könne (S. 62-64). All diese Maximen werden mit so viel Ernst vorgebracht, dass sie einen als Lesenden ob der darin beheimateten Ironie aufs Trefflichste erheitern. So erläutert die Tante zum Beispiel, dass sich Frauen auf jeden Fall durch »[…] ein schönes Päckchen Schwächen und die Angst vor Spinnen […]« auszeichnen sollten, denn dies seien »[…] unentbehrliche Requisiten im Verkehr mit den Männern.« (S. 65)

Warum?

»Weil von 10 Männern 9 abergläubisch sind, 19 von 20 glauben an den bösen Blick, und 98 von 100 haben Angst vor Spinnen. Sie vergeben uns … nun, so manches, aber sie würden es uns nicht vergeben, wenn wir über Dinge erhaben wären, die sie beunruhigen …« (S. 65)

Zu diesen ewig tendenziell beunruhigten Männern gehört auch Gaston Lachaille, ein reicher Zucker-Fabrikant, der im Haus Alvarez ein und aus geht: Er trinkt Kamillentee mit der Großmutter, spielt Karten mit Gigi. Onkelchen, so nennt das Mädchen ihn halb zugewandt, halb mitleidig, schließlich ist er doppelt so alt wie sie und ständig in irgendwelche Frauengeschichten und daraus folgende Skandale verwickelt. Kein Schritt, ohne dass irgendein Pressefutzi in den Klatschspalten darüber schreibt. Nur der Kamillentee ist offenbar unverfänglich.

Als Gaston nach seiner jüngsten Trennung der Großmutter die Idee unterbreitet, er wäre gerne Gigis erster Geliebter, sind sich alle flink in ihrer Zustimmung einig; nur Gigi will nicht, da hilft kein Edelstein (Tante), kein Drohen (Mutter), kein Schmeicheln (Großmutter). Dieser Schritt, so Gigi, brächte sie unweigerlich auch in die Klatschspalten. Doch der Tratsch und das öffentliche Leben der Reichen sei ihr zutiefst zuwider, sie habe keinen Hang zu Wechselhaftigkeiten. Da sie jedoch genau wisse, sie wäre in seinem Leben bloß ein Kapitel, bevor er Gigi an den nächsten Mann weiterreichen würde, habe sie kein Interesse daran (S. 100).

Die Tante wird noch alarmierter: Ob sie sich lieber – an der Seite irgendeines gewöhnlichen Mannes – ein ganzes Leben lang in einem Modegeschäft die Beine in den Bauch stehen wolle? 

Auch die Großmutter ist verzweifelt: Was soll man mit dem Kind bloß tun?

Gaston aber, von dem alle dachten, Gigi habe ihn durch ihr »Nein.« vertrieben, kehrt zurück. Bevor er noch etwas sagen kann, erklärt ihm Gigi, sie habe über seine Worte, dass er in sie verliebt sei (S. 92), nachgedacht und entschieden, sie sei lieber mit ihm als ohne ihn unglücklich, »[f]olglich … nun ja: Guten Tag … guten Tag, Gaston!«  (S. 103).

Dieses sonderbar kühle und durchaus erheiternde »Ja« zu ihrer neuen Rolle wird jedoch der Ausgangspunkt einer Wandlung und Gaston bittet die Großmutter um Gigis Hand. Und damit endet – höchst märchenhaft – diese Geschichte, der jungen Kurtisane, die keine wurde.

Die Dialoge, vielfach in der Pariser Umgangssprache gehalten, dominieren die Erzählhandlung. Neben der naiv-fröhlichen Gigi, der jeder Edelstein und jeder Ansatz einer Schrunde, der sofort bekämpft zu werden hat, vollkommen egal sind, machen die spritzigen Dialoge den Charme dieser Erzählung aus. Die Frauen der Familie Alvarez, halbmondäne, etwas verschrobene und darin überaus liebenswerte Charaktere, erheitern uns, auch weil sie stets unverblümt sagen, was sie denken – im Gegensatz zum wortkargen Murmler Gaston. Sie nennen Dinge beim Namen. Zwar mögen sie sich für Rubine und Diamanten verkauft haben – oder drauf und dran sein, dies zu tun –, aber sie haben es nicht not, irgendetwas an ihrem Sein oder Empfinden zu beschönigen oder zu bemänteln. Deshalb kann eine Wende zwischen Gaston und Gigi auch erst dann stattfinden, wenn er zum ersten Mal ausspricht, was er fühlt und denkt statt bloß zu seufzen und zu murmeln. Hoffen wir um Gigis Willen, dass er dies nicht nur für drei Sekunden, sondern für das Leben gelernt hat.

»Gigi« ist wohl das bekannteste Werk der französischen Autorin. Es schrieb  insbesondere auch durch die vielfältige Rezeption, die das Werk erfuhr, Literaturgeschichte: Die Erzählung wurde Vorlage für einen erfolgreichen Musical-Film (1958, Regie: Vincente Minelli) sowie für ein Broadway-Theaterstück (1973). Sie enthielt offenbar genau die richtige Dosis zahm-verruchter Halbwelt samt Ausblick und gelungener Einfahrt in den heiligen Ehehafen, um in den 1950er-Jahren produktiv rezipiert zu werden.

Darüber hinausgehend ist die Erzählung ein mit wenigen Strichen skizziertes Porträt einer erinnerten Welt, die so – bereits bei Erscheinen des Werkes – nicht mehr existierte. Erinnerungen mit wenigen Strichen aufs Papier zu zeichnen, darin ist Colette Meisterin, und wer sich diese Kunst aneignen will, ist gut beraten, ihre Werke zu studieren. Sprachlich jedoch ist »Gigi« keineswegs so beeindruckend wie andere Arbeiten dieser Autorin; und über die deutsche Übersetzung, die gänzlich ohne den Charme der Pariser Umgangssprache auskommen muss, ließe sich wahrhaftig streiten: Es lese die Erzählung folglich im Original, wer dazu in der Lage ist, und sei es auch unter Zuhilfenahme eines Wörterbuchs.

 

 

Colette: Gigi. Avant-Propos d’Alain Brunet. Paris: Hachette 2004.

Deutschsprachige Fassung:

Ohne Angabe der Übersetzerin, des Übersetzers. Wien/Hamburg: Zsolnay 1981.